Es sind nur drei Meter. Nicht hoch, eigentlich. Die Turnschuhspitze ragt ein Stück über den Baumstamm hinaus. Darunter ist nur Luft, bis zum spärlich begrasten Boden. Thomas John, genannt T.J., atmet tief ein. Der Stamm schwankt bei jeder Bewegung. Sein Herz klopft, als wolle es den 14-Jährigen anfeuern. Er kippt die Hüfte leicht nach vorne, hebt den linken Fuß und setzt ihn blitzschnell auf den nächsten Stamm. Die Brücke reagiert wackelnd, T.J.s Hände umklammern das Halteseil fester. Aus dem unfreiwilligen Halbspagat zieht er seinen hinteren Fuß nach, findet die Balance wieder und grinst erleichtert unter seinem orangeroten Schutzhelm hervor.
„Man muss immer das Gleichgewicht halten, das ist das Schwierigste“, sagt der 14-Jährige. „Und man darf keine Angst vor der Höhe bekommen.“ T.J. ist Schüler im Sonderpädagogischen Förderzentrum der St.-Martin-Schule in Riedenberg (Lkr. Bad Kissingen). Die Siebt- und Achtklässler wagen sich an diesem Vormittag mit ihren Lehrern Sabrina Weismantel und Johannes Schuhmann in die Baumkronen am Ufer des Schweinfurter Baggersees. Sie hätten das Abenteuer bei einem Wettbewerb des Landratsamtes gewonnen, sagt Weismantel. Die meisten ihrer Schützlinge sind zum ersten Mal in einem Kletterwald, sie nicht. Trotzdem: So ganz geheuer ist ihr die Höhe nicht.
Mit einem Spezialkarabiner ist man immer gesichert.
Klack, klack. Im Halbkreis stehen die Schüler um Trainerin Anika Kmetkova und üben das Öffnen und Schließen ihrer Karabiner. Ohne Helm, Gurt und Einweisung darf keiner in den Kletterwald. Die 21-Jährige zeigt, wie der Spezialkarabiner am Einstieg ins durchlaufende Seil geschoben und erst am Ende wieder ausgehängt wird. „So seid ihr immer gesichert“, sagt Kmetkova. Gemeinsam mit ihrem Trainerkollegen Simon Kleinhenz prüft sie, dass bei allen Jugendlichen die Gurte richtig sitzen. Dann geht es los. Jaqueline macht den Anfang, legt selbstbewusst die Hände auf die Sprossen und will die Sicherung einhängen. Nur: „Das ist ganz schön kompliziert“, sagt die 16-Jährige. Die Öffnung im Karabiner exakt richtig um das Stahlseil zu fädeln, gleicht einem kniffeligen Zug bei Tetris. Nicht nur die Schüler, auch die Lehrkräfte müssen am Anfang immer wieder stehen bleiben. Sie ruckeln, fluchen, gehen noch einmal zurück. Irgendwann flutscht es. Oder sie rufen die Trainer zu Hilfe.
„Safety Line“ heißt das System, das bei der Sanierung des Kletterwaldes 2016 eingeführt wurde. Damit sei es nicht mehr möglich, aus Versehen den Karabiner aus dem Sicherungsseil zu lösen. „Wir haben die höchste Sicherheitsstufe“, sagt Andreas Herlt. Er hat zahlreiche Hochseilgärten gebaut und unterstützt als Sachverständiger seine Frau Ulrike, die Besitzerin des Schweinfurter Kletterwaldes. Vier fest angestellte Betreuer und vier Saisonkräfte arbeiten derzeit in dem Park, ausgebildet wurden sie von Andreas Herlt. Kommt ein Besucher nicht mehr weiter, können sie ihn „retten“, sprich abseilen oder mit einer Leiter zurück auf den Boden holen. Insgesamt bietet der Wald heute 220 Hindernisse in verschiedenen Schwierigkeiten und Höhen. Vom Kinderparcours, knapp einen Meter über der Erde, geht es hinauf bis auf zwölf Meter.
Auch Leute mit großer Klappe werden hier manchmal ganz klein.
T.J. hat den Dreh mit dem Karabiner mittlerweile raus. Behende hangelt er sich durch überdimensionale Fischernetze, schlängelt sich durch gegabelte Äste, läuft zügig über Hängebrücken. „Man schwitzt ganz schön“, sagt der 14-Jährige. „Aber wenn alles geschafft ist, kommt ja die Seilrutsche.“ Statt mühsam über Leitern enden viele Parcours mit einer Seilbahn. Vor T.J. steht Sabrina Weismantel am Startpunkt der ersten Bahn. Die Lehrerin hängt die spezielle Karabinerrolle ein. Und jetzt? Einfach von der Plattform abstoßen? Plötzlich wirken das Stahlseil und die roten Sicherungsbänder des Gurtes ganz schön dünn. Weismantel beißt die Zähne zusammen, geht in die Knie, zögert. Dann kneift sie die Augen zu und springt. „Ahhhhhhh!“ Die Schüler applaudieren, die Lehrerin lächelt ein bisschen gequält. „Ich habe ja echt eine große Klappe“, sagt Weismantel, „aber hier: So klein mit Hut bin ich.“
Das Flattern im Magen, die weichen Knie aber auch der Stolz, der wieder am Boden durch jeden Kletterer flutet. Vielleicht sind es genau diese Emotionen, die Kletterwald-Besucher anziehen. Der Reiz des gefühlten Risikos. Neu ist das nicht. Immer wieder dokumentierten Forscher die Hochstimmung und Euphorie, die entstehen, wenn Hemmungen und Ängste sportlich überwunden werden. Im Kletterwald passiert das vielleicht auch, im kleinen Maßstab. Bundesweit gibt es nach Angaben des Hochseilgarten Kletterwald Projektes mittlerweile an die 500 Klettergärten, mehr als 80 in Bayern. Auch in der Region warten neben dem Park am See etwa der Kletterwald Einsiedel in Rimpar, der Hochseilgarten Volkersberg oder der Kletterwald am Ellertshäuser See auf Schwindelfreie.
Erntshafte Notfälle sind selten, ab und an müssen aber Besucher aus den Kronen abgeseilt werden.
So wie Simon Kleinhenz. Der 23-Jährige arbeitet in Schweinfurt als Kletterwaldbetreuer. Hauptberuflich. „Ich habe erst eine Ausbildung als Bäcker gemacht“, sagt Kleinhenz. „Aber immer drinnen sein, am Ofen, bei geschlossenen Fenstern, das war auf Dauer nichts für mich.
“ Nach sechs Jahren suchte er Abwechslung, bewarb sich auf eine Anzeige im Kletterwald. Mit Erfolg. Er bestand die Ausbildung und Prüfung zum Trainer ohne Probleme. Ernsthafte Notfälle habe er noch keine erlebt. Ab und an ein paar Pflaster verteilen oder jemanden abseilen, das gehöre zum Alltag. Im Sommer verbringt Kleinhenz so viel Zeit wie möglich im Park, betreut Familien, Schulklassen oder Firmengruppen, entwickelt Hindernisse mit oder klettert nach Feierabend selbst in den Baumkronen. Angst vor der Höhe hat er keine.
Auch die meisten der Riedenberger Schüler haben sich längst an die viele Luft unter den Turnschuhen gewöhnt. Und an das Wackeln. Vom Jugendparcours wagen sich die ersten weiter hinauf. Sechs Meter, von Baum zu Baum führen nur schwingende Seile. Kaum dicker als ein Männerdaumen. Dann eine schaukelige Brücke. Ein Stamm. Der ist leicht, T.J. läuft ohne Zögern. Die Sonne blitzt durch die Bäume. Mit dem Handrücken wischt sich der 14-Jährige den Schweiß von der Stirn, klettert auf Holzleitern, über Balken. Dann, endlich, die nächste Seilrutsche, die längste. T.J. grinst. Und stößt sich jauchzend ab.
Beispiele Kletterwälder in der Region Der Schweinfurter Kletterwald am Ufer des Baggersees bietet nach Angaben der Betreiber etwa 220 Kletterelemente wie schwingende Stämme oder Holzbrücken und eine Gesamtkletterlänge von 2600 Metern. Es gibt 28 Parcours in verschiedenen Höhen und Schwierigkeiten. Erbaut wurde der Wald 2008 und vergangenes Jahr saniert. 2016 kamen 7500 Besucher. Den Kletterwald Einsiedel in Rimpar (Lkr. Würzburg) gibt es laut Geschäftsführer Peter Langer seit zwölf Jahren. Geklettert werden kann ab vier Jahren, los geht es in 1,20 Meter Höhe. Es gibt 13 Parcours und einen gesicherten Sprung aus 30 Metern Höhe. Saison ist von den Osterferien bis Ende Oktober. Der Hochseilgarten Volkersberg (Lkr. Bad Kissingen) ist im Frühjahr 2016 neu gebaut worden. Er bietet laut Homepage 30 verschiedene Übungen in bis zu 14 Metern Höhe. Für Gruppen ab acht Personen ist der Garten buchbar, offenes Klettern ist nur zu bestimmten Terminen möglich. In der Erlebniswelt Strohhofer in Geiselwind (Lkr. Kitzingen) an der Autobahn 3 gibt es einen Kletterwald mit elf Parcours und 107 Elementen. Je nach Alter, Körpergröße oder Schwierigkeitsgrad kann man hier den für sich passenden Parcours auswählen, der Kinderparcours ist ab drei Jahren. Hinauf geht es für Profikletterer bis auf 15 Meter. Im Kletterwald am Ellertshäuser See (Lkr. Schweinfurt) warten drei Parcours: Der Kinderparcours ab vier Jahren, der Jedermannsweg bis in eine Höhe von acht Metern und der Höhenweg ab 16 Jahren, der bis auf 18 Meter hinauf führt. Geöffnet ist der Wald bis Ende Oktober. Auch im Kletterwald Spessart am Wildpark Heigenbrücken (Lkr. Aschaffenburg) gibt es mehrere Parcours mit unterschiedlichen Schwierigkeiten, vom Kinderparcours „Kleiner Wolf“ mit zwölf Elementen in 1,50 Metern Höhe bis zum „Gelben Parcours" in 30 Metern Höhe und mit mehr als 600 Metern Seilrutschen. Ab Mitte November macht der Kletterwald Winterpause. ONLINE-TIPP Ein Video vom Rundgang in den Baumkronen und alle Teile der Serie finden Sie unter www.mainpost.de/abenteuersport