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MARBURG: Martin Schulz, der Bodenständige

MARBURG

Martin Schulz, der Bodenständige

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    Daumen hoch, den Umfragewerten zum Trotz: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz vor wenigen Tagen beim Besuch auf der Alten Mainbrücke in Würzburg zusammen mit den regionalen SPD-Politikern Bernd Rützel, Alexander Kolbow, Sabine Dittmar und Muchtar Al Ghusain (von links).
    Daumen hoch, den Umfragewerten zum Trotz: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz vor wenigen Tagen beim Besuch auf der Alten Mainbrücke in Würzburg zusammen mit den regionalen SPD-Politikern Bernd Rützel, Alexander Kolbow, Sabine Dittmar und Muchtar Al Ghusain (von links). Foto: Foto: Thomas Obermeier

    Du kennst mich viel zu wenig . . .“ Die Wahlkampf-Hymne von Martin Schulz beginnt ausgerechnet mit dieser Feststellung. Händeschüttelnd bahnt sich der SPD-Kanzlerkandidat den Weg durch die Menschen auf dem mittelalterlichen Marktplatz in Marburg. Wie beim Marsch eines Boxers zum Ring dröhnt dazu ein Lied. „Wie sehr wir leuchten“ heißt das Stück des Pop-Duos Gloria. Das hat gut gepasst, als sie es beim SPD-Parteitag im März spielten, bei dem Schulz mit historischen 100 Prozent zum Parteivorsitzenden gewählt, als Kanzlerkandidat frenetisch gefeiert wurde. Das mit dem Leuchten, aber eben auch das mit dem Zu-wenig-kennen.

    Nichts hat der SPD-Chef seither unversucht gelassen, damit ihn die Deutschen besser kennenlernen. Martin Schulz hat in dieser Beziehung einen riesigen Rückstand auf Angela Merkel aufzuholen. Denn der Satz „Sie kennen mich“ ist das Erfolgsrezept der Bundeskanzlerin. Ein hochrangiger SPD-Stratege glaubt, dass die Zeit seit der Nominierung viel zu kurz war, um die nötige Vertrautheit zwischen Schulz und den Deutschen herzustellen. Jetzt, im Endspurt seines Wahlkampfs, ist der SPD-Chef immer noch dabei, sich vorzustellen. Und versucht, Nähe zu schaffen – indem er zeigt, dass er seinerseits ganz viele Menschen kennt. Ganz normale Leute, die er im Alltag ständig trifft.

    Schön zu erleben war das erst dieser Tage, als der Herausforderer durch Würzburg spazierte. Er besucht einen Buchladen, informiert sich in einem Pflegeheim, steigt zu Arbeitern in Baugruben und gesellt sich bei einem Brautpaar aufs Hochzeitsfoto. Parteigenossen verteilen rote Rosen. Die Umfragen sind schlecht, aber Schulz kämpft. Was soll er auch anderes tun? Dieser Mut aus Verzweiflung schafft Sympathie. Schulz spricht an diesem Morgen in keiner Halle. Er plaudert mit Bürgern, hört zu, interessiert sich für ihre Geschichten. Er schreibt Autogramme, posiert für Selfies, er kommt so den Menschen nahe. „Einer der schönsten Termine in diesem Wahlkampf“, wird er später sagen – und vielleicht hat er das auch in sein Tagebuch geschrieben. Seit 30 Jahren führt Martin Schulz Tagebuch. Jeden Tag schreibt er am Abend genau eine Seite, und wer sein aktuelles Buch liest „Was mir wichtig ist“, der spürt, es sind genau diese vermeintlich kleinen Leute, die ihm wichtig sind.

    In Marburg erzählt der Kandidat im rheinischen Singsang von der armen alten Frau, die 120 Euro Wohngeld bekommen würde, wenn ihre Rente nicht um lächerliche fünf Euro zu hoch wäre. Da ist der Student, der mehr Zeit mit der Wohnungssuche verbringt, als mit dem Studieren. Schulz berichtet von den Handwerkern, die er gerade im Haus hat, die alle Dieselautos fahren und jetzt Fahrverbote und Wertverlust fürchten. Vom Patienten, der schon viel zu lang im Wartezimmer sitzt. Und sich ärgert, weil ein anderer sofort drankommt, nur weil er privat versichert ist.

    Kleine Geschichten von „kleinen Leuten“, er baut sie immer wieder ein, sie sorgen für Kopfkino, sollen zeigen, wie ungerecht es in Deutschland doch zugeht. Schulz? Vorstellungen einer modernen sozialdemokratischen Politik bekommen so ein Gesicht – seines, mit Bart und Brille. Schulz gibt den hemdsärmeligen Macher, der ganz entschieden vorgehen würde gegen Wohnungsnot, Zweiklassenmedizin oder schummelnde Autokonzerne. Das kommt gut an in der traditionsreichen hessischen Studentenstadt. Zumal der 61-Jährige dort eine Art Heimspiel hat, die Gegend ist SPD-Hochburg.

    Doch selbst in der Wolle gefärbte Sozialdemokraten räumen ein, dass ihnen Schulz noch gegen Ende des vergangenen Jahres kaum ein Begriff war. Ein langjähriger SPD-Kommunalpolitiker aus einer Umlandgemeinde sagt: „Das war einfach dieser Europapolitiker mit dem Bart. Was das für ein Mensch ist, wofür der steht, da hatte ich keine Ahnung.“ Warum der weitgehend Unbekannte dann nach seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten einen heute fast bizarr anmutenden Sturm der Begeisterung auslöste, erklärt sich der Mittsiebziger mit Schiebermütze so: „Die Genossen waren einfach froh, dass nicht der Gabriel antritt.“

    Als Schulz Ende Januar vom Parteivorstand zum Kanzlerkandidaten gekürt wird, steckt die SPD in einer existenzbedrohenden Krise. Zwar kann sie in der Großen Koalition mit der Union durchaus Erfolge vorweisen: Mindestlohn, Rente mit 63. Doch die Lorbeeren trägt die Kanzlerin davon. Der Fluch des Juniorpartners, der am Ende in der Wählergunst meist verliert, trifft die SPD mit aller Härte. Laut Umfragen wollen ihr zeitweise nicht einmal mehr 20 Prozent der Wähler ihre Stimme geben. Und alle Entscheidungen, für die die Kanzlerin kritisiert wird, etwa in der Flüchtlingskrise, hat die SPD voll mitgetragen.

    Sigmar Gabriel, der Vorsitzende, von dem alle die Kanzlerkandidatur erwarten, ist selbst in den eigenen Reihen so unbeliebt, dass keiner ihm auch nur den Hauch einer Chance gegen Merkel gibt. Doch dann trifft er die Entscheidung, die in der SPD damals als genialer Schachzug gefeiert und heute hinter vorgehaltener Hand immer öfter als ein Sich-aus-der-Verantwortung-Stehlen kritisiert wird. Gabriel verzichtet auf die Kandidatur und präsentiert Martin Schulz. Den Mann, der von außen kommt, Teil der SPD ist, aber eben nicht Teil der Großen Koalition. Der keine Rücksichten zu nehmen braucht – eigentlich.

    In welchem Maß die SPD anfangs ihren neuen Vorsitzenden feiert, sagen Schulz-Vertraute, ist ihm selbst unheimlich. Wo immer er auftritt, jubeln begeisterte Genossen, von der „Lichtgestalt“, gar vom „Messias“ ist die Rede. Ganz offen träumt die SPD im Frühjahr davon, im „Schulz-Zug“ direkt ins Kanzleramt zu fahren. Zur Euphorie trägt bei, dass der Hoffnungsträger so ganz anders erscheint, als die meisten Spitzenpolitiker. Sein Lebenslauf ist ungewöhnlich, weist Brüche und Niederlagen auf. Der Sohn eines Polizeibeamten wächst in Würselen auf, einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen.

    Das katholische Gymnasium verlässt er ohne Abitur, weil er in Mathe schwächelt. Wie viele Jugendliche will er Fußballprofi werden. Das große Ziel scheint in greifbarer Nähe, als er als Mannschaftskapitän von Rhenania Würselen westdeutscher Vize-Jugendmeister wird. Doch ein kaputtes Knie macht ihn zum Sport-Invaliden. Und wirft ihn völlig aus der Spur. Mit 24 Jahren ist Schulz Alkoholiker, schafft es aber, die Sucht zu besiegen. Er wird Buchhändler.

    Seine Mutter hatte den örtlichen CDU-Verband gegründet – es ist also wohl auch Rebellion gegen das Elternhaus, die dazu führt, dass Martin Schulz wie seine vier Geschwister bei der SPD landet. Er bewundert Willy Brandt, ist bewegt von dessen Kniefall in Warschau. Im Hinterzimmer seiner Buchhandlung heckt er mit den Freunden von den Jusos Strategien aus. Und wird mit erst 31 Jahren Bürgermeister von Würselen. 37 000 Einwohner hat die Stadt, die bei Aachen liegt, nahe der holländischen und belgischen Grenze. Von dort aus kann er bequem nach Brüssel pendeln, seine Frau Inge und die beiden Kinder, heute längst erwachsen, regelmäßig sehen, als er 1994, mit 38 Jahren ins Europaparlament gewählt wird.

    Mit Leidenschaft, Ehrgeiz und mitreißenden Reden schafft er den Aufstieg zum Vorsitzenden der Sozialistischen Fraktion und 2012 sogar zum Präsidenten des Europaparlaments. Schulz gilt als Vertreter des rechten Flügels der SPD. Mit den Konservativen im Parlament hat er wenig Berührungsängste. Zu Jean-Claude Juncker, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, hat Schulz einen guten Draht – ebenso wie zur deutschen Kanzlerin. So glauben viele, dass er mit Attacken auf die Kanzlerin geizt, etwa im zahmen Fernsehduell, weil er sich jetzt schon als Koalitionspartner in Position bringen will.

    Im Wahlkampf spielt Schulz seine lange Erfahrung auf höchster europapolitischer Ebene eher herunter. Europa, das weiß auch er, ist für viele Menschen ein Reizwort, das nach zu viel Bürokratie und Umverteilung klingt. Umso öfter betont er seine Herkunft, beschwört geradezu seine Bodenständigkeit. Auch in Marburg erfahren die Zuhörer, dass seine Brille ein Kassengestell hat und seine Anzüge von der Stange sind. Im selben Atemzug geißelt er „selbst ernannte Eliten in den Medien“, die ihm die Aura eines Sparkassenangestellten oder den Charme eines Zugschaffners bescheinigen.

    „Was ist an einem Zugschaffner schlecht, was an einem Sparkassenangestellten? Das sind Leute, die Respekt verdienen“, wettert Schulz. Der Spott gegen ihn, den Mann ohne Abitur, sei Ausdruck einer „tief sitzenden Verachtung gegenüber normalen Menschen“. Als Schulz „Respekt für alle Menschen“ fordert, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Nachnamen, bekommt er an diesem Nachmittag den längsten Applaus.

    Ein Mitglied aus Schulz? Wahlkampfteam berichtet, dass sie im Willy-Brandt-Haus keine befriedigende Erklärung dafür haben, warum der Kanzlerkandidat bei Auftritten im ganzen Land viel Zuspruch erntet und doch in den Umfragen zur Wählergunst seinen riesigen Rückstand auf Merkel nicht verringern kann. Dass die Euphorie der verrückten Anfangstage, als die SPD zeitweise auf Augenhöhe mit der Union schien, verpufft ist – klar, das habe mit den drei Niederlagen der SPD bei Landtagswahlen zu tun. Für die könne Schulz ja wenig, habe aber als Vorsitzender eben doch den Kopf hinhalten müssen. Gerade die Wahlschlappe in seiner nordrhein-westfälischen Heimat habe ihn sehr geschmerzt.

    Die Deutschen kennen seither vor allem Schulz, den Verlierer. Der einer weit in Führung liegenden Gegnerin hinterherhechelt. Im Wochentakt seine Vorschläge präsentiert, wie er Deutschland gerechter machen will. Damit aber kaum durchdringt – vielleicht, weil das Land wirtschaftlich so schlecht nicht dasteht. Der Plan, die Agenda-Reformen des letzten SPD-Kanzlers Gerhard Schröder zum Teil zurückzunehmen, geht dem linken Lager in seiner Partei nicht weit genug. Länger Arbeitslosengeld sollen nur Ältere bekommen, wenn sie an Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen. Ob Schulz die Einkommenslücke zwischen Frauen und Männern schließen will oder ein neues Rentenkonzept vorstellt – zum Wahlkampfschlager wird keines der Themen, die er setzt.

    In Marburg glaubt zumindest der SPD-Senior mit der Schiebermütze, dass er Martin Schulz jetzt besser kennt. „Der könnte schon Kanzler“, sagt er. Und hat trotzdem so seine Zweifel, ob Schulz in wenigen Tagen die Bundeskanzlerin ablösen kann. „Die Merkel kennen die Leute halt schon seit zwölf Jahren. Oder glauben es wenigstens.“ Mitarbeit: Michael Czygan

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