Wort zum Sonntag für 18. Mai:
Ein mächtiger Rosenstock mitten in einem außergewöhnlichen Grab. Auf dem Stein steht in dicker Schrift:
„Verzeih, Georg, verzeih!“ Darunter, viel kleiner, viel unscheinbarer: „Marie.“
Keine Daten, aber ein ungewöhnliches Zitat an diesem Ort: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“
Ich spreche eine alte Dame an. Sie führt mich zum Denkmal für die Gefallenen der Kriege. „Da!“, sagt sie und zeigt auf einen Namen. „Der Georg“, frage ich? Sie nickt.
„Was ist passiert?“, frage ich. „Gehen Sie zum Lothar! Der erzählt es Ihnen. Ich kann nicht. Ich hab die Marie zu lieb gehabt und den Georg auch. Für mich blühen die Rosen übrigens immer. Anders kann ich es nicht aushalten.“
Der Lothar sitzt vor seinem Häuschen. „Georg ist im November 1943 gefallen“, sagt er. „Erst hat er seinen Heimaturlaub abgebrochen und dann wollte er unbedingt an die vorderste Front. Als Kanonenfutter, wie die Alten das nannten. Zwei Tage hat er überlebt, den dritten nicht mehr.
Als die Todesnachricht kam, ist die Marie ins Wasser gegangen. Sie hatte sich dieses Schild um den Hals gehängt. Darauf stand: ,Verzeih, Georg, verzeih‘ und dann eben dieses Stück aus dem Vaterunser. In ihrem Abschiedsbrief hat sie verfügt, was auf ihrem Grabstein stehen soll.
Sie konnte die lange Zeit nicht aushalten, in der Georg fort war, wissen Sie? Sie hat es einfach nicht geschafft.
Als er auf Heimaturlaub kam, lag sie in den Armen eines anderen. Aber die Marie war so jung und so schön. Man muss doch vergeben, nicht wahr? Wie soll es denn sonst gehen in dieser Welt? Man muss doch vergeben.“
Ich bedanke mich bei ihm und gehe. Plötzlich höre ich wieder die helle Spieldosenmusik meines kunterbunten Sehnsuchtsglaubens in meinem Herzen. Und dann sehe ich die beiden vor mir, zueinandergeliebt drüben in Gottes Anderwelt. Das ist die Melodie meiner Kindskopfhoffnung. Ich mag sie sehr. Sie vertröstet nicht, sie öffnet.
Das Vaterunser bete ich seitdem anders. Wenn es heißt: „So wie wir vergeben unsern Schuldigern“, dann sehe ich die Marie und den Georg und den Rosenbusch, der immer blühen muss. Irdisch noch als Wunsch, himmlisch aber als versöhnende Schönheit.
Denn: „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“
Thomas Perlick,
Pfr. i.R., Bad Brückenau