„Bolivien ist dreimal so groß wie Deutschland, hat aber nur zwölf Millionen Einwohner“, erklärte Andreas Motschmann. Mit einem Vortrag bei der evangelischen Frauenhilfe über „Deutsche in Bolivien“ im Kreuzberg-Gemeindezentrum stellte der gebürtige Altenkunstadter das südamerikanische Land vor, in dem er seit über 15 Jahren lebt und arbeitet. Die Resonanz war erfreulich.
Der Referent erinnerte an das Jahr 1789, als der 28-jährige, in Deutsch-Mähren geborene Geologe und Pflanzenforscher Thaddäus Haenke zehn Jahre vor dem berühmten Alexander von Humbold seine Forschungsreise nach Südamerika begann. Nicht weniger als 240 Arten seien nach ihm benannt. Er habe aus Pflanzen Medizin für die indianische Bevölkerung hergestellt und die Pockenimpfung eingeführt. „Haenke blieb in Bolivien und ist daher in Deutschland weitgehend unbekannt“, so Motschmann.
Nach dem Freiheitskämpfer aus Kassel ist die Schule benannt
Ein anderer bedeutender Deutscher, der in Bolivien eine neue Heimat fand, war Otto Philipp Braun. 1798 in Kassel geboren, trat er 1820 unter dem Namen Felipe Braun als Offizier in die Armee Simón Bolivars ein. Im Februar 1825 zog er als einer der Befreier mit der Unabhängigkeitsarmee in La Paz ein. „Seit fast 80 Jahren trägt dort die Deutsche Schule den Namen 'Mariscal Braun´“, betonte Motschmann, der seine Ausführungen mit eindrucksvollen Bildern untermalte.
1923 sei der Deutsche Schulverein gegründet worden mit der Aufgabe, eine deutsche Schule zu errichten und zu betreiben. Schon damals seien die erforderlichen Lehrer zum Teil aus Deutschland entsandt worden; daran habe sich bis heute nichts geändert. „Einige Jahre später wurde beschlossen, die deutsche Schule in eine Begegnungsschule umzuwandeln, die Schülerinnen und Schülern aller Nationalitäten offen stehen sollte, um den interkulturellen Austausch zu fördern“, sagte Motschmann.
Mit Unterstützung von Ordensschwestern sei 1925 vom Deutschen Unterstützungsverein die Deutsche Klinik gegründet worden. 1938 habe man die bestehenden Institutionen zur Deutschen Kulturgemeinschaft vereinigt. 1935 lebten rund 1050 Deutsche in Bolivien, davon allein 500 in La Paz. Die Wirren der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs gingen auch an den Deutschen in Bolivien nicht spurlos vorüber.
Viele von den Nazis verfolgte Juden werden in Bolivien aufgenommen
Andreas Motschmann ging auf die Situation der Juden in Bolivien vor den großen Einwanderungswellen in den Jahren 1938/39 und 1941/42 ein. Bis 1930 lebten nur knapp 100 Juden in Bolivien. Anfang 1940 schätzte man die Zahl der in La Paz sich aufhaltenden Emigranten auf etwa 8000. Davon zogen einige Hundert in die größeren Provinzstädte und nur einige Dutzend aufs Land. „Die überwältigende Mehrheit konzentrierte sich auf die Regierungshauptstadt, die innerhalb von etwa zwei Jahren zahlenmäßig um fünf bis zehn Prozent anwuchs. Die Emigranten waren aus dem Straßenbild nicht mehr wegzudenken“, sagte der Referent. Es werde geschätzt, dass die bolivianischen Konsulate in Europa und anderswo von 1937 bis 1940 etwa 12.000 Einreisevisa für Flüchtlinge ausgestellt haben.
Im 21. Jahrhundert leben laut Motschmann nicht mehr viele Deutsche dauerhaft in Bolivien. Zwar hätten um die 5000 Personen einen deutschen Pass, doch dabei handele es sich oft um die Nachfahren der Deutschen, die vor etwa 100 Jahren in das lateinamerikanische Land gekommen seien. „Sie freuen sich, dass sie durch den Pass mehr Reisefreiheit haben, obwohl sie kein Wort Deutsch mehr sprechen“, so der Redner. Ebenso gebe es im Tiefland einige Mennoniten-Dörfer, wo die Menschen in ihrer Abgeschiedenheit noch ihren niederdeutschen Dialekt wie vor 200 Jahren pflegen.
„Die eingangs erwähnte Deutsche Kulturgemeinschaft, in deren Direktorium ich mehr als sechs Jahre tätig war, hat nur noch knapp 100 Mitglieder“, bedauerte Motschmann. Zehn Jahre habe er für das „Monatsblatt“ geschrieben: „Das ist die einzige deutschsprachige Zeitschrift, die es in Bolivien gibt.“
Wegen steigender Infektionszahlen kein Treffen im August
Erika Fürst vom Leitungsteam der evangelischen Frauenhilfe dankte Andreas Motschmann für seine informativen wie auch kurzweiligen Ausführungen. An Josef Motschmann, den 2016 verstorbenen Bruder des Referenten, erinnerte sie mit einigen Mundartgedichten aus dessen Feder. Der Theologe und Heimatforscher hatte sich auch als Dichter einen Namen gemacht. Fürst gab bekannt, dass wegen der steigenden Corona-Infektionszahlen das Treffen im August entfällt.