Der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Juden erreichte seinen Höhepunkt mit den Deportationen, die im Oktober 1941 begannen. Wenige Monate später erhielten auch die verbliebenen Jüdinnen und Juden am Obermain die Aufforderung, sich auf den Abtransport „in den Osten“ vorzubereiten. Der Umfang des Gepäcks, das sie mitnehmen durften, war dabei genau festgelegt und auf wenige Habseligkeiten beschränkt. Im Laufe des 24. April 1942 wurden sie gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen.
Eine Reise in den Tod
Unter Bewachung brachte man die Gruppe nach Bamberg. Von dort aus transportierte ein Sonderzug die insgesamt 955 Männer, Frauen und Kinder in das besetzte Polen. Neben den zehn Personen aus Burgkunstadt traten an diesem Tag auch 13 Menschen aus Altenkunstadt und neun aus Lichtenfels ihre letzte Reise an. Die Fahrt endete in Krasnystaw südöstlich von Lublin, von wo aus die Deportierten zu Fuß in das 17 Kilometer entfernte Dorf Kraśniczyn gebracht wurden.
Dort pferchte man sie zunächst in ein improvisiertes Ghetto zusammen. Einige arbeitsfähige Männer kamen in ein Arbeitslager in der Nähe. Wenn die Ghetto-Insassen nicht bereits vorher zu Tode gekommen waren, so wurden sie am 6. Juni 1942 in das Vernichtungslager Sobibór verschafft und dort unmittelbar nach der Ankunft der Gaskammer ermordet.
Zu den Personen, die im April 1942 die Reise in den Tod antreten mussten, zählte auch die 1923 in Burgkunstadt geborene Eva Hildegard Kraus. Mit ihren Eltern, dem Buchhalter Max Kraus (1874-1942) und seiner Frau Mina Kraus (1882-1942), geborene Bayer, wohnte die 18-Jährige in der Bahnhofstraße. Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten unterschied sich der Alltag der Familie nur wenig von dem ihrer christlichen Nachbarn. „Das Einvernehmen der jüdischen und christlichen Bevölkerung war eigentlich immer sehr gut“ erinnert sich noch in den 1980-er Jahren eine Zeitzeugin an das Zusammenleben in der oberfränkischen Kleinstadt. Ab 1933 veränderte sich die Situation jedoch zunehmend.
Verfolgung und Schikane
Während Jüdinnen und Juden bereits zuvor mit antisemitischen Vorurteilen zu kämpfen hatten, erfuhren sie nun die gezielte Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft. Dazu gehörte auch die Zerstörung ihrer beruflichen Existenz: 1935 verlor der Vater Max Kraus seine Anstellung bei der Schuhfabrik Püls. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichten die nationalsozialistische Verfolgung während der Pogromnacht im November 1938, als die Burgkunstadter Synagoge verwüstet wurde und die Nazis zahlreiche jüdische Männer in Haft nahmen. Nur wenige Tage zuvor hatte Max Kraus als letzter Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde die ehemalige jüdische Schule an die Stadt verkaufen müssen.
Trotz der anhaltenden Verfolgung fasste die Familie erst nach den Ereignissen des Novemberpogroms Pläne zur Flucht aus Nazi-Deutschland. Die Aufnahmechancen in einem Auswanderungsland standen für den bereits 64-jährigen Max Kraus allerdings schlecht. Daher sollte zunächst Irma Bayer (1889-1942), die Schwester seiner Frau Mina Kraus, nach London emigrieren, um dann zumindest Eva nachzuholen. Die Ausreise aus Deutschland verzögerte sich möglicherweise auch, weil die Familie die Großmutter Karoline Bayer (1858-1942) nicht zurücklassen wollte. Letztendlich gelang es keinem Mitglied der Familie mehr, sich ins Ausland zu retten.

Ein letzter Gruß
In der Nacht des 24. April, wenige Stunden, bevor Eva Kraus mit ihrer Familie deportiert wurde, verfasste die junge Frau einen kurzen Brief an eine Freundin. Als Uhrzeit vermerkte sie „früh um vier Uhr“. Erst kurz zuvor hatte sie die Vorbereitungen für den Abtransport beendet. „Jetzt bin ich erst fertig geworden, um mich ein wenig hinzulegen. Mit dem Schlafen wird es heute nichts werden. Deshalb benütze ich diese paar freien Minuten, um mich bei Dir nochmals zu verabschieden“ – so begann sie ihr Schreiben.
Empfängerin war die damals 21-jährige Elisabeth Gebhard. Diese gehörte aufgrund ihrer jüdischen Mutter ebenfalls zu den Personen, die von den Nationalsozialisten wegen ihrer Abstammung verfolgt wurden. Durch ihren nichtjüdischen Vater waren sie und ihre Mutter allerdings in gewisser Weise geschützt und von vielen antijüdischen Repressalien nicht betroffen. So entgingen sie auch der Deportation im Frühjahr 1942.
Elisabeth Gebhard war offenbar die einzige Freundin, die Eva Kraus in ihrer Heimatstadt noch hatte. Im Verlauf der 1930-er Jahre war der Kontakt mit nichtjüdischen Kindern und Jugendlichen praktisch unmöglich geworden und Schikanen gegenüber jüdischen Schülerinnen und Schülern gehörten zum Schulalltag.
Entsprechend dankbar war ihr Eva Kraus: „Ich werde immer an die frohen und schönen Stunden denken, die ich bei Dir verbrachte und die mir über die Schwere der Zeit hinweghalfen.“ Angesicht der bevorstehenden Trennung fragte sie ihre Freundin abschließend „Werde ich Dich je einmal wiedersehen? Nun ja, wir sind ja beide noch jung und man kann nie nicht wissen. Ein Trost ist, dass das nicht Einzelschicksal ist, sondern Schicksal vieler Tausender.“
„Noch heute muss ich weinen, wenn ich an sie denke.“
Elisabeth Gebhardt, eine Freundin, die überlebte
Die Hoffnung auf ein Wiedersehn gingen für die jungen Frauen nicht in Erfüllung. Wie mehr als sechs Millionen andere jüdische Männer, Frauen und Kinder wurde Eva Kraus Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns. Ihre genauen Todesumstände sind – wie die vieler – nicht zu ermitteln.

Elisabeth Gebhardt bewahrte das letzte Lebenszeichen ihrer Freundin über Jahrzehnte auf. „Noch heute muss ich weinen, wenn ich an sie denke“, schreibt sie Jahrzehnte später. 1980 übergab sie den Brief der internationale Holocaust-Gedenkstätte „Yad Vashem“ in Jerusalem.