LOHR. Klara Ott, Else Keßler, Joseph Strauß, Meta Kahn, Katharina Schwind, Hildegard Scheuplein, Frieda Blumenthal, Arnold Stern. Die Namen stehen für Opfer der Euthanasiemorde an Patienten der seinerzeit sogenannten Heil- und Pflegeanstalt Lohr. Er wolle den Zahlen Namen und Gesichter geben, sagte Wolfgang Vorwerk am Mittwoch in seinem Vortrag im Festsaal des Bezirkskrankenhauses.
Rund 100 Zuhörer
Der Vorsitzende des Lohrer Geschichts- und Museumsvereins sprach vor rund 100 Zuhörern, darunter zwei Schulklassen, über die Morde der Nationalsozialisten an psychisch Kranken, die als Euthanasie (»guter Tod«) verbrämt wurden. Als aktuellen Bezug nannte Vorwerk den Bundestagsbeschluss vom Januar, mit dem Opfer der Zwangssterilisation und Euthanasie als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt wurden.
In diesem Beschluss werde auch betont, wie wichtig es sei, Nachwuchskräften im medizinischen und pflegerischen Bereich diese Verbrechen näherzubringen, die von Ärzten und Pflegern begangen wurden, berichtete Vorwerk. Ihre Grundlage, die NS-Rassenhygiene, sei nicht vom Himmel gefallen. Die Eugenik, die höher- und minderwertiges menschliches Leben unterscheide, sei im 19. Jahrhundert in Europa und den USA entstanden.
Alle Dämme gebrochen
Auch in anderen Staaten habe es Zwangssterilisationen von psychisch Kranken gegeben. Aber erst die Nationalsozialisten hätten es geschafft, diese Vorstellungen in Gesetzesform zu gießen, mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom Juli 1933. »Damit brachen alle Dämme«, so Vorwerk.
Nach seinen Worten muss zwischen zwei Phasen der Euthanasie unterschieden werden. 1940 und 1941 habe es die zentral von der Berliner Tiergartenstraße 4 aus gelenkte »Aktion T 4« gegeben, bei der über 70.000 Menschen aus den Heilanstalten des damaligen Deutschen Reiches (zu dem unter anderem Österreich gehörte) in sechs Tötungsanstalten deportiert, vergast und verbrannt worden seien.
Unruhe und Proteste
Diese Aktion sei am 14. August 1941 auf einen Schlag beendet worden wegen Unruhe und Protesten in der Bevölkerung. Bekannt sei die Predigt des Bischofs von Münster, Graf Clemens August von Galen, gegen die Verbrechen. Offiziell wurde das Ende mit »Transportschwierigkeiten« begründet. Das Regime habe wegen des bevorstehenden Russland-Feldzugs Ruhe gebraucht.
»Das Leiden in den Einrichtungen ging aber weiter«, betonte Vorwerk. Den Ärzten sei praktisch freie Hand gelassen worden für dezentrale Euthanasiemorde. In Bayern habe es den sogenannten »Hungerkosterlass« gegeben. Er habe den Weg frei gemacht, psychisch Kranke durch Nahrungsentzug zu töten.
500 Zwangssterilisationen
In den Heilanstalten Lohr und Werneck wurden laut Vorwerk circa 500 Menschen zwangssterilisiert. In ganz Deutschland seien es rund 400.000 gewesen. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs habe sich die NS-Politik dramatisch radikalisiert: »Das Regime ließ alle Zurückhaltung fallen.«
Grundlage der »Aktion T 4« seien Meldebögen für psychisch Kranke gewesen, die ab Oktober 1939 an die Anstalten im Reich verschickt worden seien. In Lohr seien sie im Juli 1940 angekommen. Der Leiter der Lohrer Einrichtung, Pius Papst, habe gemeldet, er habe für das Ausfüllen der Bögen keine Kapazitäten.
770 Patienten deportiert
Daraufhin sei ein Berliner Arzt nach Lohr abgeordnet worden, der sich mit der Unterstützung von Medizinstudenten die rund 800 Patienten oberflächlich angesehen habe. Aus Lohr seien 470 und aus Werneck 300 Patienten auf der Grundlage dieser Meldebögen in eine der Tötungsanstalten deportiert und ermordet worden, beginnend mit 19 jüdischen Patienten aus Lohr.
Nach dem Krieg behauptete Papst, in der dezentralen Phase der Euthanasie sei der Hungerkosterlass in Lohr nicht angewandt worden. »Die Zahlen sprechen aber eine andere Sprache«, unterstrich der Referent. In den Kriegsjahren seien 785 Patienten verstorben, davon zwei Drittel in den Jahren des Erlasses 1943 bis 1945. Diese hohe Quote lasse sich mit Kriegsentbehrungen nicht erklären.
Franz Wolf berichtete über das Schicksal seiner Großmutter Klara Ott (1890 bis 1940). Ihr Mann fiel als erster Lohrer im 1. Weltkrieg, die junge Witwe blieb mit drei kleinen Kindern zurück. Von der Situation überfordert, habe sie Selbstmordabsichten geäußert und angedeutet, die Kinder »mitzunehmen«.
Angeblicher Leberschaden
Daraufhin sei sie 1923 in die Heil- und Pflegeanstalt Lohr eingewiesen worden. Im November 1940 sei sie in die Tötungsanstalt Pirna (Sachsen) deportiert worden, wo sie am 7. Dezember 1940 an einem angeblichen Leberschaden gestorben sei.
Wolfgang Vorwerk erinnerte an Else Keßler (1889 bis 1940), die Tante von Ehrenringträgerin Adele Hauck. Bei der Lehrerin in München sei Schizophrenie diagnostiziert worden, woraufhin sie in einer Münchner Anstalt untergebracht worden sei. Die Familie habe über ihren Tod im September 1940 nur ein Formschreiben erhalten, erst Adele Haucks Sohn Clemens habe vor einigen Jahren die Wahrheit herausgefunden.
In Hadamar ermordet
Weitere Opfer waren laut Vorwerk Joseph Strauß (1923 bis 1940) aus der Sterngasse, ein taubstummes jüdisches Kind, das in seinem Matrosenanzug deportiert worden sei, und Meta Kahn aus der Konditorgasse, die 1941 in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet worden sei. Katharina Schwind (1908 bis 1940) kam aus der Lohrer Anstalt in die Tötungseinrichtung Pirna, wo sie wahrscheinlich verhungerte.
Hildegard Scheuplein (1898 bis 1940) war Patientin in Werneck und starb in ebenfalls Pirna. Frieda Blumenthal (1898 bis 1940) aus Würzburg war in Lohr Patientin und starb im österreichischen Hartheim, obwohl sie als geheilt galt, aber sie war Jüdin. Arnold Stern (1917 bis 1940) aus Burgsinn, Patient in Lohr, kam ebenfalls in Hartheim als Jude zu Tode.
Mitten in der Gesellschaft
Der Mord an psychisch Kranken sei mitten in der Gesellschaft organisiert worden, sagte Vorwerk. »Der Holocaust begann in der Psychiatrie.«