Eine großangelegte Suchaktion nach einem vermissten 23-Jährigen hat am Freitag und Samstag das Spessartörtchen Neuendorf bewegt. Rund 80 Freiwillige und 15 örtliche Feuerwehrleute aus dem nur 800 Einwohner großen Dorf stellten am Samstagvormittag in kürzester Zeit eine private Suchaktion auf die Beine. Zwei Neuendorfer fanden den jungen Mann, der sich in einer psychischen Ausnahmesituation befand und bereits zwei Nächte draußen verbracht hatte, gegen Mittag im Wald auf der Sohlhöhe nahe des Oberbeckens.
Seine Familie hatte ihn am Freitagmorgen bei der Polizei vermisst gemeldet, die daraufhin mit Drohnen, Tauchern, Hunden und Hubschrauber nach dem 23-Jährigen suchte. Der Großvater des Vermissten hatte durch Zufall den Koffer seines Enkels auf einem Waldweg gegenüber der einstigen Cocktail-Bar Coconut bei Langenprozelten gefunden, erzählt die Mutter des 23-Jährigen im Telefongespräch mit der Redaktion.
Handy beim See geortet
Weil der junge Mann am Donnerstag gegen 17 Uhr zuletzt auf einem Fahrradweg zwischen Langenprozelten und Neuendorf gesehen und sein Handy im Bereich des Sindersbachsees geortet worden war, habe sich die Polizei bei ihrer Suche auf dieses Gebiet konzentriert, so die Mutter. Nach ihren Angaben unterbrachen die Einsatzkräfte Freitagnacht um 23.30 Uhr ihre Suche wegen der Dunkelheit und nahmen sie am frühen Samstagmorgen wieder auf.
Ein Onkel des Vermissten rief derweil in Absprache mit der Polizei in einer lokalen WhatsApp-Gruppe zu einer privaten Suchaktion auf. Neuendorfs Feuerwehr-Kommandant Markus Helfrich, der bereits am Tag zuvor an der Suche beteiligt gewesen war, sah den Aufruf am Samstag gegen 9 Uhr. »Wir können keine private Suchaktion machen, die völlig unkoordiniert irgendwo in den Wäldern rumläuft«, schildert der 30-Jährige seine Gedanken.
Kurzerhand stimmte er sich mit der Einsatzleitung in Gemünden ab, dass es eine über die Feuerwehr Neuendorf koordinierte, private Suchaktion gibt. Bis 11 Uhr sollten sich die Freiwilligen am örtlichen Feuerwehrhaus einfinden, hatte es in den Sozialen Medien geheißen. Wenig Zeit also für den Kommandanten, das Ganze in geregelte Bahnen zu lenken.
Hundestaffel nicht stören
Bedingung für die private Initiative sei gewesen, dass die anderen Suchmaßnahmen nicht behindert werden, erklärt Helfrich. »Wir mussten in der Gemarkung Neuendorf bleiben. Insbesondere, weil im Sindersbachtal nach Ruppertshütten raus und um den Sindersbachsee noch die Rettungshundestaffel im Einsatz war.«
Deshalb richtete der Kommandant im Neuendorfer Feuerwehrgerätehaus mit Kollegen um 10 Uhr eine lokale Einsatzleitung ein und legte verschiedene Suchbereiche fest. Ziel sei gewesen, den Wald »organisiert abzusuchen und nicht im Chaos querbeet zu laufen«. Außerdem musste Verpflegung und der Transport für die Helfer organisiert werden, beschreibt Helfrich seine Aufgaben.
Als sich zur vereinbarten Zeit rund 80 private Helfer und 15 örtliche Feuerwehrkräfte versammelt hatten, sei er schon leicht nervös geworden, erzählt Helfrich. Enorme 700 Hektar groß ist der Wald auf Neuendorfer Gemarkung, den Helfrich für die sieben Suchtrupps in verschiedene Sektoren einteilte. In jeder Gruppe waren jeweils zwei Feuerwehrleute mit Funkgerät dabei, die für die Vermisstensuche ausgebildet sind.
»Wir haben uns überlegt, wo Schutzhütten oder markante Bereiche im Wald sein könnten, wo er sich aufhalten könnte«, erläutert der 30-Jährige. Auch Orte, die der 23-Jährige kennt, beispielsweise weil seine Familie dort einen Holzschlag hat, seien in die Suche einbezogen worden.
Mit Traktoren ausgerückt
Einer der freiwilligen Helfer war Winfried Rauch, der über die Dorf-App von der Aktion erfahren hatte. Der 68-Jährige rückte mit seinem Traktor samt Anhänger an, um die Mitsuchenden zu befördern. Drei andere Neuendorfer taten es ihm gleich, so dass der Fuhrpark stetig wuchs. »Das lief unter der Regie der Feuerwehr. Unser Trupp bestand aus drei Fahrzeugen, eins von der Feuerwehr und zwei zivile«, erzählt Rauch.
Im Wald angekommen, sollten die Fahrer der Trecker laut Rauch am Startpunkt bei ihren Fahrzeugen bleiben, während die übrigen Helfer die geplante Strecke absuchen. Da Rauch aber über mehrere Ecken erfahren hatte, dass jemand auf einem Weg in seiner Nähe eine Trinkflasche gefunden habe, beschloss er gemeinsam mit Heribert Rauch, der zwischenzeitlich dazugekommen war, dort nachzusehen. »Das war zunächst der einzige Anhaltspunkt, den wir hatten«, sagt der Neuendorfer.
Blauen Rucksack gefunden
Dort fanden die beiden nicht nur eine halbvolle Wasserflasche, sondern entdeckten bald auch einen blauen Rucksack. Mit einem solchen war der Vermisste laut Suchmeldung der Polizei unterwegs gewesen. »Der Gesuchte hat das offenbar beobachtet, anders kann ich mir das nicht erklären. Er war nämlich plötzlich in unserer unmittelbaren Nähe auf dem Forstweg aufgetaucht«, schildert der 68-Jährige.
Er habe den jungen Mann im ersten Moment aufgrund der besonderen Umstände nicht erkannt, obwohl er zur »weitläufigen Nachbarschaft« gehöre, erzählt Winfried Rauch. Der Mann sei sichtlich verwirrt gewesen, schiebt er nach. Feuerwehrkommandant Markus Helfrich bekam das ganze Geschehen live im Gerätehaus mit. »Ich habe mich teilweise wie im Film gefühlt«, sagt er.
Hektik in der Einsatzzentrale
Um 12 Uhr rief Winfried Rauch ihn an, als sie den Rucksack im Wald gefunden hatten. In der Neuendorfer Einsatzzentrale kam sofort Hektik auf: »Wir müssen den Bereich markieren und das entsprechend weitergeben, damit wir eventuell Spuren sichern und die Hundestaffel dorthin schicken können«, schoss es Helfrich sofort durch den Kopf. Da hörte er schon Rufe am anderen Ende der Leitung: »Das isser! Ich glaube, das isser!«
Neun Minuten später traf Helfrich dort ein. Der junge Mann wurde nach Neuendorf gefahren und gegen 12.30 Uhr am Feuerwehrhaus dem Rettungsdienst übergeben. Die Mutter des Vermissten ist allen, die bei der Suche nach ihrem Sohn geholfen haben, unendlich dankbar. »Es ist unglaublich, wie das alles in der Kürze der Zeit möglich war«, sagt sie in Bezug auf die Organisation der Suchaktion.
Überwältigt von so viel Hilfe
Schon am Tag zuvor sei sie überwältigt gewesen von der Arbeit der Einsatzkräfte und der Suche nach dem 23-Jährigen über die Sozialen Medien. »Auf allen Kanälen hat mich mein Sohn angeschaut. Das war zum einen schwer auszuhalten, aber zum anderen wusste ich, es wird nach ihm gesucht, mit allem, was geht«, sagt die Mutter. Den Zustand ihres Sohnes beschreibt sie folgendermaßen: »Er war körperlich stabil, aber in einer psychischen Ausnahmesituation.«
Die Schwester des 23-Jährigen gibt Einblicke in die Seelenlage der Familie während dieser zwei Tage des Bangens und Hoffens: »Man hat schon darüber gesprochen, was passiert, wenn er gefunden wird, aber nicht mehr am Leben ist oder ob er überhaupt noch gefunden wird.« Der Familie standen zwei Helfer von der Notfallseelsorge des Roten Kreuzes zur Seite.
Stolz auf Zusammenhalt
Winfried Rauch bezeichnet es als »erstaunlich für unsere kleine Gemeinde«, dass sich so viele Menschen für die Suche eingefunden hatten. »Da waren ganze Familienverbünde dabei - vom Großvater bis hin zu den Enkeln. Wenn es um was geht, ist man in Neuendorf bereit, für die Gemeinschaft einzustehen«, sagt er. Ähnlich äußert sich Bürgermeister Karlheinz Albert, der am Wochenende nicht in seinem Heimatort war: »Das Dorf kann sehr stolz auf diesen Zusammenhalt sein.«
Auch Feuerwehrkommandant Markus Helfrich ist »extrem stolz darauf, wie viele Leute mitgeholfen haben«. Seine eigene Rolle möchte er nicht besonders hervorheben. Es sei definitiv eine Gemeinschaftsleistung gewesen, betont er. Auch für ihn war der Einsatz nicht leicht: »Ich kenne den Vermissten persönlich, da ist das immer ein zwiespältiges Gefühl. Auf der einen Seite will man seine Professionalität wahren und funktioniert einfach. Auf der anderen Seite kommen immer wieder Gedanken durch, wie: Was passiert, wenn du ihn findest? In welchem Zustand könnte er eventuell sein?«