Auf dem Franziskusweg in der Rhön nahe der Thüringer Hütte gibt es wunderbare Kunstwerke zu sehen. Künstler der Berufsfachschule für Holzbildhauer haben dort den Sonnengesang des Franz von Assisi mit ihren Werken illustriert. Ein Kunstwerk hat mich besonders fasziniert. Dargestellt ist eine Schafherde, die der Wolf beherrscht. Diese Darstellung und die Worte des Franziskus „Es gibt den Wolf in mir und ich kann ihn zähmen“ beschäftigten mich.
Ja, es gibt das Dunkle, Böse, Gefährliche in uns. Oft lauern wir darauf, wie der Wolf in der Nähe der Schafe, dass andere einen Fehler machen. Wir legen an sie oft viel strengere Maßstäbe an als an uns selbst. Wie gehen wir mit denen um, die anders sind als wir? Ihre Herkunft, ihre Art, ihr Lebensstil und ihr Frömmigkeitsstil unterscheiden sie von uns. Was geben wir ihnen weiter von dem, was wir als Christen empfangen und erkannt haben? Können sie die Liebe und Barmherzigkeit Gottes an unserer Lebenspraxis ablesen? Wie leben wir den christlichen Glauben glaubwürdig?
Jesus sagt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Jesus hat die Barmherzigkeit Gottes verkündigt und gelebt. Deutlich legt er den Finger auf die dunklen Stellen im Leben des Einzelnen und im Zusammenleben. Die Macht des Bösen zerstört Gemeinschaft und bindet viel Kraft. Gegen unbarmherziges Richten, Verurteilen und Verdammen setzt Jesus Liebe, Vergebung und Heilung. Am Kreuz von Jesus, dem Sinnbild der Liebe Gottes, sehen wir Gott am tiefsten ins Herz. Christen leben von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes. Wir sind nicht zu Richtern über andere bestimmt. Wir sind auch nicht zu Detektiven berufen, die im Leben anderer ermitteln. Das letzte Wort und das letzte Urteil über einen Menschen steht allein Gott zu.
„Richten macht blind, aber Liebe macht sehend“ hat Dietrich Bonhoeffer treffend formuliert. Wir sehen oft den Splitter im Auge des Andern, aber nicht den Balken im eigenen Auge. Nicht jede Kritik muss unterbleiben. Schuld darf durchaus aufgedeckt und Sünde beim Namen genannt werden. Fehlentwicklungen und Fehlentscheidungen in Kirche und Gesellschaft gilt es zu benennen. Irrlehren, Irrwege, Fehlverhalten und Missstände müssen aufgedeckt werden. Aber Kritik darf nicht verdammen. Für meine Schuld und mein Fehlverhalten und für die Schuld und das Verhalten des Anderen ist das Kreuz von Jesus aufgerichtet. Wer aus Gottes Liebe und Barmherzigkeit lebt, lernt den anderen mit neuen Augen zu sehen. In der Sehschule von Jesus lernt man den Durchblick auf das, was weiterhilft. Richten macht blind, aber Liebe macht sehend.
Der Autor: Michael Wehrwein, evangelischer Dekan i.R., Lohr.
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