Die Gießener Politikwissenschaftlerin Dorothée de Nève sieht in dem gescheiterten ersten Wahlgang von CDU-Chef Friedrich Merz bei der Kanzlerwahl «ein unmissverständliches Warnsignal». «Er ist Ausdruck der Unzufriedenheit – nicht nur bei einzelnen Abgeordneten, sondern auch in beiden potenziellen Regierungsparteien. Dies spiegelt sich auch in den Umfragen», sagt sie.
Das Vertrauen in Merz als künftigen Bundeskanzler sei gering. Und es gebe von unterschiedlichen Seiten viel Kritik an den Inhalten des Koalitionsvertrages sowie am Prozess der Regierungsbildung. «Diese Kritik konnte man im bisherigen Prozess mit Mehrheiten für den Koalitionsvertrag in den einzelnen Parteien vermeintlich in den Wind schlagen. Sie hat nun aber in einem sehr sensiblen Moment und im Schatten der Anonymität große Sichtbarkeit erlangt.»
Alles andere als ein geschmeidiger Start
Der gescheiterte erste Wahlgang habe freilich nicht nur Merz, sondern auch den SPD-Chef und designierten Vizekanzler Lars Klingbeil beschädigt, sagte die Professorin für das Politische und soziale System Deutschlands und den Vergleich politischer Systeme an der Justus-Liebig-Universität Gießen. «Das ist alles andere als ein geschmeidiger Start.»
Am Morgen hatte Merz auf dem Weg ins Kanzleramt überraschend einen schweren Rückschlag erlitten: Der 69-Jährige scheiterte bei der Wahl im Bundestag im ersten Wahlgang. Er erhielt in geheimer Abstimmung 310 von 621 abgegebenen Stimmen und damit 6 weniger als nötig. Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD haben zusammen 328 Sitze im Parlament.
Der Vorgang ist ein Novum in der bundesdeutschen Geschichte. «Entsprechend groß ist die Aufregung», sagt de Nève. Wir leben politisch in einer Zeit, in der Gewissheiten und Stabilität schwinden. Die Polarisierung und Fragmentierung des Parteienwettbewerbs machen die Suche nach Mehrheiten schwierig.»
Wünschenswert, dass es bald handlungsfähige Regierung gibt
Angesichts der aktuellen multiplen Krisen sei es aber natürlich wünschenswert, dass es in Deutschland bald wieder eine handlungsfähige Regierung gebe, die aktiv zur Lösung der zahlreichen Krisen beitragen kann.
Und was bedeutet das Scheitern angesichts der aktuellen Politik- und Demokratieverdrossenheit? Sie erwarte nicht, dass deshalb die Verdrossenheit zunehme, sagte de Nève. «Es ist ja nicht eine gescheiterte Wahl, sondern lediglich ein gescheiterter erster Wahlgang.» Es sei ein Warnsignal, das ankomme und die Aufmerksamkeit für das politische Geschehen in der Öffentlichkeit zumindest kurzfristig erhöhe. «Wenn aus diesem ersten gescheiterten Anlauf eine monatelange Hängepartie resultieren würde, dann wäre das was anderes. Das ist aber derzeit nicht zu erwarten.»
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