Ja, die Rhön. Hier muss man mit allem rechnen. Barbara und Manuela, Freundinnen aus der Gelnhausener Ecke im Hessischen, wollten nur wandern. So circa neun Kilometer von Bischofsheim über die Osterburg zum Neustädter Haus inklusive einer Übernachtung. Nun sitzen sie verwundert an ihrem Tisch. Die Spätzle sind bestellt, der Frankenwein glänzt perlweiß im Glas. Und im vollen Gastraum wird laut gesungen. „Hymn“ von Barclay James Harvest. Im Songtext von 1977 steigt Jesus von den Wolken auf die Erde herab. In der Realität fließt profan das Karmeliterbier aus dem Zapfhahn. Gläser klirren, Geschirr scheppert: „Valley's deep and the mountain's so high“ singen die Gäste im Chor – und intonieren schon beim ersten Lied des Abends sehr beherzt.
Barbara und Manuela sind begeistert. „Wir wollten uns einen beschaulichen Tag in der Rhön gönnen, und jetzt erleben wir das hier. Herrlich!“, sagt Barbara, die im wirklichen Leben die Chefin von Manuela ist. Georg Quast schmettert die hymnischen Gitarrenakkorde des BJH-Klassikers in die Gaststube, Volker Keß und Anton Weithmann unterstützen ihren Kollegen nach Kräften.
Neben dem Weizenglas liegen Notenblätter und Mundharmonika bereit
Die drei haben sich gleich am Nebentisch häuslich eingerichtet: ein kleiner Verstärker mit Box, drei Mundharmonikas auf dem Tisch, Weizengläser gegen den Durst und eine Handvoll Notenblätter. Auf den Tischen der Gäste liegen geheftete Liederbücher aus, eine Eigenproduktion des Trios. Im Wechsel können die sechs durchnummerierten Tische der Gaststube aus diesen Liederbüchern ein Stück wählen.
Die Atmosphäre im Neustädter Haus ist schnell prickelnd: „Skandal im Sperrbezirk“ von der Spider Murphy Gang steht auf der Wunschliste ganz oben. 1981 war der Song der Münchner Rock'n-Roller ein Nummer-Eins-Hit. Wer heute Endvierziger ist, bekam damals noch rote Ohren, wenn sich die Nutten die Füße platt standen. Und wehe dem, der damals die berühmte Telefonnummer aus dem Song besaß!
In der Ecke der Gaststube hat eine Gruppe junger Männer und Frauen ihren Spaß. Der Bierzelt-Ohrwurm findet von Generation zu Generation sein neues Publikum. Die Gäste sind also für den Abend gewonnen. Das Trio kann gelassen in den Abend spielen, während draußen der farbenfrohe Rhöner Herbstwald im Dunkel verschwindet.
Hier geben drei Lehrer den Ton an
Die Musiker kennen sich seit 25 Jahren. Sie arbeiten allesamt als Lehrer in der Fördereinrichtung Katharinenschule in Fuchsstadt (Lkr. Bad Kissingen) und sind schon lange musikalisch gemeinsam unterwegs. 2013 kam Georg Quast die Idee, ein Wirtshaussingen anzubieten, das sich eben nicht den Klassikern des Volksliedes widmet, sondern der Rock- und Popmusik aus den 60ern bis zur Jetztzeit. „Wir haben schon an der Saale gespielt oder in Zeil am Main im Göller-Biergarten, aber noch nicht in einer Rhön-Hütte“, erklärt Quast.
Ein Versäumnis, das im Neustädter Haus gebührend nachgeholt wird. Tisch eins wünscht sich „Mr. Tambourine Man“. Das „Hey, Hey“-Motiv lockt noch mehr Gäste aus der stimmlichen Reserve. Der Bob-Dylan-Klassiker aus dem Jahr 1965, von den Byrds im gleichen Jahr zum Welterfolg verrockt, schmiedet die Gäste zusammen. Der freundliche Kellner jedenfalls muss noch ein wenig schneller laufen, beim vielen Singen dürfen die Kehlen nicht trocken bleiben.
Hinter dem Tresen freut sich Maria Hartan. Mit ihrem Mann Alexander, der aus dem nahen Sandberg stammt, hat sie erst 2016 das Neustädter Haus übernommen. Im Sommer haben sie hier auf dem Käuling, direkter Nachbar des Kreuzbergs, den 90. Geburtstag des Rhönklub-Hauses gefeiert. Heute ist das junge Wirte-Ehepaar mächtig froh, dass der Hüttenabend der etwas anderen Art so gut ankommt. Der musikalische Ruf des Hauses wird heute nämlich weit getragen. Aschaffenburg ist unter den Gästen vertreten, Kassel, Oberstdorf und Künzell.
Unten liegt Nebel und oben Reinhard Meys „Freiheit über den Wolken“
Was singt man auf 754 Metern Höhe, wenn unten im Tal die Nebelschwaden liegen? „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“ skandieren Männlein und Weiblein, jung und alt, an den sechs Tischen. Befreit von den Sorgen des Alltags sind sie hier allesamt. Nur die junge Familie mit den beiden Kleinkindern nicht so ganz. Es ist mittlerweile drückend schwül im Gastraum. Die müden Kleinen wollen ins Bett, Reinhard Meys Ballade hin oder her.
Der zweite Schoppen Wein ist geordert, Barbara und Manuela sind tief im Rhöner Glück versunken. „Als Kinder waren wir oft in der Rhön, und auch unsere eigenen Kinder haben wir immer mit hierher genommen. Es ist nah, und es ist herrliche Natur geboten“, sagt Barbara. Das Wirtshaussingen wird schnell ins Allversöhnliche geweitet. „Hier sind Menschen zusammen, die sonst nicht in eine Gemeinschaft gekommen wären. Musik verbindet halt überall auf der Welt, das ist doch großartig“, schwärmt die Hessin. Hinter ihr hält ein tönernes Erdmännchen eine Laterne am Fensterbrett, gegenüber wackelt der Halloween-Kürbis zu America's Kultlied „A Horse with no name“.

„A Gaul mit koan noame“, liefert ein Rhöner Gast die Übersetzung des ersten America-Hits von 1971 mit. Beim „La laaa, laaa, lalalala“ heben sich die Hände der Gäste, Biergläser und Schnitzelmesser bleiben am Tisch.
„Was wollen wir trinken?“ gibt's auch als Lied
Dann kommt die Frage, die den Zapfwirt in Verzückung bringt: „Was wollen wir trinken?“ hat sich ein Tisch gewünscht, den friedensbewegten Bots-Klassiker aus den Siebzigern. Krug um Krug wird gefüllt. Später wird die Getränke-Auswahl noch einmal ergänzt: „Whisky in the jar“, wahlweise in den Versionen von den Dubliners, Thin Lizzy oder Metallica im musikgeschichtlichen Gehörspeicher, fetzt im Neustädter Haus. Vor allem Volker Keß, der Multiinstrumentalist der Gruppe, spielt sich von einem Solo ins nächste.
Eine junge Frau hat die Sitzbank als Tanzfläche entdeckt, aus allen Gesichtern schaut Seligkeit. „Ihr habt nur super Wünsche“, freut sich Moderator Georg Quast. Und Chefin Maria Hartan mit dazu. „Die Jungs waren bei einem Tagesausflug bei uns gelandet, hatten ihre Gitarren dabei und mussten eine Zugabe nach der anderen spielen. Da war klar, dass die mal offiziell kommen müssen“, sagt die Wirtin, die mit ihrem Mann das ganze Jahr auf der Hütte lebt und dadurch auch unter der Woche Hausgäste annehmen kann.
Um mit Freddy Quinn zu singen: „So schön war die Zeit“
Während also die Kinder oben schon selig schlafen, brennen unten die Betten bei Midnight Oils „Beds are Burning“ von 1987. Die Rhythmussektion wird um mehrere Kugelschreiber auf Bierglas verstärkt, ansonsten kracht die Tischplatte zum „tam, tam, tam“. Die Stunden vergehen mit Cat Stevens und Wolfgang Ambros, der jetzt schon „Skifoarn“ will. Beim „Mull of Kintyre“ zückt Volker Keß gar den Dudelsack und läuft pfeifend durchs Publikum. Inbrünstiger hat man den Paul-McCartney-Hit von 1977 lange nicht gehört.
Spät am Abend erfüllt sich dann noch der Traum für Barbara aus dem Hessischen und die Gäste werden um Jahrzehnte ins Jetzt katapultiert: „Applaus, Applaus“, von den Sportfreunden Stiller. Der Gemeinschaftschor auf Zeit ist im Jahr 2013 angekommen. Es gibt nur noch ein Zurück. „Heimweh“ von Freddy Quinn aus dem Wirtschaftswunderjahr 1956, wo er für vier Monate den ersten Chart-Platz einnahm. Man kann es am Ende dieses Abends nicht anders sagen als mit ihm: „So schön war die Zeit“.
Hüttenabende in der Rhön Gemeinsames Musizieren findet auf Rhöner Hütten meistens spontan statt. Auf der Gemündener Hütte nahe dem Kreuzberg wird jeden ersten Donnerstag im Monat musiziert und gesungen. Beginn ist stets um 17 Uhr. Auf der Milseburghütte in der hessischen Rhön wird jeden Montag von 13 Uhr bis 15.30 Uhr zum Montagssingen geladen. Am 28. Oktober ab circa 17 Uhr gibt es Wirtshausmusik mit „Plan B“. Das Flower-Power-Singen im Neustädter Haus soll eine Wiederholung erfahren, ein Termin steht aber noch nicht fest. FG