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Eine Nadel geht unter die Haut

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Eine Nadel geht unter die Haut

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    Tätowiermaschine im Einsatz: Durch die schnelle Bewegung der Nadel kann Jörg Sauer die Linien wie mit einem Stift zeichnen. Den Unterschied zu einem Kugelschreiber spürt vor allem der Kunde, aber auch dem Tätowierer sollte er bewusst sein, denn vermalen darf er sich nicht.
    Tätowiermaschine im Einsatz: Durch die schnelle Bewegung der Nadel kann Jörg Sauer die Linien wie mit einem Stift zeichnen. Den Unterschied zu einem Kugelschreiber spürt vor allem der Kunde, aber auch dem Tätowierer sollte er bewusst sein, denn vermalen darf er sich nicht. Foto: Foto: Max Koch

    Bilder vom letzten Zahnarztbesuch schießen einem unwillkürlich in den Kopf. Es riecht nach Desinfektionsmittel und hinter einem Sichtschutz hört man ein leises, aber penetrantes Surren. Erst als das nächste Lied der Marke Death Metal aus den Boxen dröhnt und man die Fotos mit Ozzy Osbourne und Kid Rock entdeckt, kann der natürliche Fluchtreflex unterdrückt werden. Denn Jörg „Jorge“ Sauer quält niemanden mit einem Bohrer. Sein Arbeitsgerät ist eine Tätowiermaschine.

    Davon besitzt er mittlerweile 14 Stück. „Die sammeln sich mit der Zeit an“, sagt er. Den Beinamen Jorge hat er genau wie seine Tätowiermaschinen aus den USA mitgebracht. Seine Werkzeuge wurden 1891 von Samuel O'Reilly erfunden und werden von zwei Magnetspulen angetrieben. „Es gibt auch Maschinen mit Rotationsmotor. Aber ich mag die Klassischen lieber“, meint der Tätowierer. So seien seine Maschinen alle in Handarbeit gefertigt worden und nicht von der Stange.

    Von der Stange gibt es mittlerweile sogar ganze Anfänger-Sets. „Damit kann dann jeder ein eigenes Studio eröffnen“, sagt Sauer ironisch, und verzieht das Gesicht, „sogar mit Lehr-DVD. Das reicht dann auch als Ausbildung.“

    Sein Galgenhumor kommt nicht von ungefähr. Schließlich kann sich rein rechtlich wirklich jeder „Tätowierer“ nennen. Dass es tatsächlich auch so viele machen, versteht Jörg Sauer nicht.

    „Die meisten wissen gar nicht mehr, wie ihre Maschine funktioniert“, beschwert er sich. Seine Miene entspannt sich aber wieder, als er an seine erste Tätowiermaschine denkt. „Die kam damals noch in tausend Einzelteilen und ich musste sie selbst zusammenbauen.“

    Auch heute muss er immer wieder an seinem Werkzeug herumschrauben, aber das macht er gerne: „Das ist wie bei einer Harley Davidson.“

    Seine Lieblings-Tätowiermaschine hat er sich vor zwölf Jahren in San Francisco gekauft. Der Stil des Rahmens nennt sich Bulldog und wurde in den 50er Jahren in den USA entwickelt. Es ist ein so genannter Liner, mit dem die Umrisse einer Tätowierung gestochen werden. Für diese Aufgabe läuft die Maschine schneller als der so genannte Shader, der zum Ausfüllen von größeren Flächen konzipiert ist.

    Sauer nimmt den Liner aus einem gepolsterten Koffer, in dem auch die anderen Tätowiermaschinen stecken. Er trägt sie jeden Tag mit nach Hause, damit sie nicht geklaut werden. Zwar sind alle Maschinen individuell auf Sauer justiert, doch wisse ein potenzieller Dieb das nicht.

    Sauer hält den Rahmen seiner Maschine noch einen Moment vor sich und betrachtet ihn. Dann sucht er die anderen Teile zusammen. „Zuerst nimmt man das Griffstück“, er befestigt es an dem Rahmen mit den zwei Spulen. Es ist innen hohl für die Nadel, die er aus einer Schublade nimmt. „Das sind alles Einwegnadeln, die steril verpackt sind“, erklärt Sauer. Ein möglichst steriler Arbeitsplatz ist sehr wichtig für Tätowierer. Seine Instrumente reinigt er, wie es auch in der Medizintechnik Brauch ist, mit einem Autoklav. Das ist ein Sterilisationsgerät, das mit Druck und Hitze reinigt.

    Sauer schiebt die Nadel in das Griffstück. Sie ist am oberen Ende zu einer Schlaufe gebogen, womit Sauer sie am Rahmen befestigt. Dann spannt er ein Gummi um Nadel und Rahmen. Das verhindere, dass die Spitze zu sehr vibriert, erklärt er. „Jetzt schließe ich sie noch an den Strom an und kann loslegen.“ Mit Spulen und Strom wird ein Magnetfeld erzeugt, das immer wieder eine Metallfeder anzieht und loslässt. Damit saust die Tätowiernadel mit bis zu 5000 Bewegungen pro Minute auf und ab. Genauso funktioniert übrigens eine elektrische Türklingel.

    Die Farbe kommt, wie bei einem Pinsel, an die Nadel und dann unter die Haut. „Beim Stechen muss man sehr aufpassen“, weist Sauer auf die notwendige Feinmotorik hin. „Sticht man zu tief, verläuft die Farbe. Das ist reine Gefühlssache.“ Ein Gefühl, das sich nach jahrelanger Übung einstellt. Seine Erfahrungen hat er zum Beispiel in Deutschland, den USA und in Italien gesammelt.

    Den ersten Kontakt mit einer Tätowiermaschine hatte Sauer bereits mit 14 Jahren. Damals ließ er sich als erste Tätowierung ein Einhorn unter die Haut malen. „Das habe ich sogar immer noch.“ Er zeigt seinen Arm, wo das Einhorn mittlerweile ein Motiv von vielen ist.

    Weitere Tätowierungen zeichnete er selbst und ließ sie sich dann stechen. 1996 nahm er, 13 Jahre nach seinem ersten Besuch in einem Studio, das Angebot eines Freundes an und begann seine Ausbildung zum Tätowierer. Schon während dieser Zeit in Schwäbisch Hall besuchte er immer wieder die USA.

    In seinem Studio Hut Stuff Tattoo in Bad Kissingen hängen die Wände voll mit Erinnerungen an die Zeit und die Kollegen, die er in den USA und der ganzen Welt kennenlernte. 2009 kehrte er nach Kissingen und zu seiner Familie zurück. „Ich bin hier geboren“, sagt Sauer. „Das ist meine Heimat.“ Das Studio eröffnete er einfach auf gut Glück.

    Treuer Kundenstamm

    Hier gibt es zwar nicht so viel Laufkundschaft wie in der Großstadt, aber das ist Sauer ganz recht: „Diejenigen, die kommen, wissen dann wenigstens, was sie wollen.“ Dazu hat er noch einen treuen Kundenstamm, der auch längere Reisen in Kauf nimmt, um sich von Sauer tätowieren zu lassen.

    Sie kommen zum Beispiel aus Wiesbaden oder Heilbronn, wo er neben vielen anderen Stationen die Nadel schwang.

    Doch manche Kissinger Kunden überraschen selbst den erfahrenen Tätowierer: „Ich habe hier einer 82-Jährigen ihre erste Tätowierung gestochen. Das war bislang meine älteste Kundin.“

    Sonst seien die Kunden eher zwischen 28 und 55 Jahre alt. „Ganz normale Kunden“, meint er, und bemerkt sofort den Widerspruch zwischen seiner Aussage und den Fotos amerikanischer Rockstars auf der Fensterbank: „Die habe ich gar nicht tätowiert“, stellt er klar. „Wir haben nur zusammen gefeiert.“

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