Es waren die letzten Tage des Jägerlehrbataillons 353 vor seiner Auflösung: Sven Mattiza saß gut getarnt mit dem Gewehr im Anschlag im Schatten eines Gebüsches und sicherte den Vorstoß dreier Kameraden. Ein anderer Teil der Rekruten sicherte das Gelände von hinten ab. Gefechtsmäßiges Vordringen heißt diese Übung im Bundeswehr-Jargon, bei der mit scharfer Munition geschossen wird. Plötzlich trafen den 20-jährigen Lausitzer zwei Kugeln aus dem Gewehr eines Kameraden 40 Meter hinter ihm. Ein Schuss traf ihn ins Bein, der zweite durchschlug sein Herz. Der 20-Jährige war sofort tot. Zwei Monate nach dem verhängnisvollen Schießunfall stellte die Staatsanwaltschaft Schweinfurt ihre Ermittlungen mangels hinreichenden Tatverdachts ein. Der Unfall sei die Folge einer Verkettung unglücklicher Umstände, hieß es damals.
Die Eltern des toten Soldaten nahmen das nicht hin und legten Beschwerde beim Generalstaatsanwalt ein. Diese wurde abgewiesen. Daraufhin beantragten sie beim Oberlandesgericht (OLG) Bamberg die Klageerzwingung. Nach einjähriger Prüfung gab das OLG jetzt dem Antrag statt, die Staatsanwaltschaft Schweinfurt muss Anklage gegen den Sicherheitsoffizier der Gefechtsübung erheben.
„Die haben versucht, das unter den Teppich zu kehren“, begründet die Mutter des getöteten Soldaten, Silvia Mattiza, im Gespräch mit der Chefreporterin der Lausitzer Rundschau, Simone Wendler, ihre Hartnäckigkeit, den Tod ihres Sohnes nicht als schicksalsgegeben hinzunehmen und dafür alle juristischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Der Prozess könne zwar ihren Sohn nicht zurückbringen. Doch wenn jemand dafür verantwortlich war, müsse das gesagt und Konsequenzen gezogen werden.
Verantwortlich machen die Eltern für den Tod ihres Sohnes den Sicherheitsoffizier. So soll sich nach Recherchen der Lausitzer Rundschau die verhängnisvolle Übung folgendermaßen abgespielt haben: In zwei Gruppen sollten die Rekruten im Gelände vorrücken. Dabei mussten sie plötzlich vor ihnen hochklappende Schützenscheiben mit schnellem Einzelfeuer aus ihrem G 36 bekämpfen. Die dunklen Pappkameraden waren einen halben Meter hoch und zeigten die Silhouette eines knieenden Soldaten mit Gewehr im Anschlag. In genau dieser Position befand sich Sven Mattiza, als er zwei Stunden nach Übungsbeginn erschossen wurde.
„Hätte die Schützenaufsicht ihren Platz nicht verlassen, wäre es nicht zu dieser Verwechslung gekommen“
Aus dem Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg
Das geschah, nachdem er mit drei anderen Soldaten zu einem Gebüsch vorgerückt und dort als Sicherung für seine weiter laufenden Kameraden zurück geblieben war. Neben ihm stand dabei ein Soldat mit roter Armbinde und roter Flagge auf dem Helm.
Diese so genannten Sicherungsposten sollen den rückwärtigen Soldaten signalisieren, dass sich neben ihnen ein Soldat mit schussbereiter Waffe befindet. Wie die Rundschau aus dem OLG-Beschluss berichtet, gab in diesem Moment der Sicherheitsoffizier einen verhängnisvollen Befehl: Mit dem Zuruf weg habe er den Sicherungsposten von dem knieenden Mattiza weggeschickt, weil der junge Lausitzer sich in ausgezeichneter taktischer Gefechtsposition befand und das mit einer Digitalkamera für Lehrzwecke fotografiert werden sollte. Der Sicherungsposten auf dem Foto hätte dabei störend gewirkt.
Der Todesschütze, ebenfalls ein Brandenburger Rekrut, der sich 40 Meter dahinter befand, war in dieser Situation kurz abgelenkt. Nach Recherchen der Rundschau soll er in der vorangegangenen Nacht als Unteroffizier vom Dienst eingeteilt worden sein und deshalb nur fünf Stunden geschlafen haben. Als er den Schatten des knieenden Mattiza ohne Sicherungsposten sah, feuerte er sofort auf die vermeintliche Schützenscheibe und traf seinen Kameraden tödlich.
„Hätte die Schützenaufsicht ihren Platz nicht verlassen, wäre es nicht zu dieser Verwechslung gekommen“, ist laut Rundschau die Einschätzung des OLG. Der Schuldvorwurf sei durch die Ermittlungen deshalb ausreichend erhärtet, um Anklage gegen den Sicherheitsoffizier zu erheben.
Bei der Bundeswehr ist man dagegen nach wie vor überzeugt, dass niemandem ein Schuldvorwurf zu machen ist. „Für mich ist es eine Verkettung unglücklicher Umstände“, sagte Oberstleutnant Jörg Schaffelke, der damalige Kommandeur des inzwischen aufgelösten Jägerlehrbataillons 353, gestern gegenüber der MAIN-POST. Denn laut Dienstvorschrift wäre es gar nicht erforderlich gewesen, dass ein Sicherungsposten bei dem knieenden Rekruten stand, weil die Ziele auf dieser Seite der Gefechtsbahn bereits alle erfasst gewesen seien. Die interne Untersuchungskommission der Bundeswehr, die den Todesfall untersuchte, spricht in ihrem vertraulichen Abschlussbericht deshalb auch von einem „Augenblicksversagen“ des Schützen.
Für die Eltern des toten Sven ist das kein Trost. Unabhängig vom Ausgang des anstehenden Prozesses liegt ihnen laut Rundschau auch daran, am Schicksal ihres Sohnes öffentlich zu machen, wie gefährlich der Dienst bei der Bundeswehr im Inland sein kann.