Waren sie schon mal Mitglied in einer Jury? Für mich war es eine Premiere, als Marina Kleinhenz von der Realschule Bad Brückenau mich bat, doch Teil eines solchen Gremiums zu sein. Es ging zwar nicht um Supertalente oder große europäische Preise der Sangeskunst, sondern „nur“ um einen Vorlesewettbewerb der sechsten Klassen. Gespannt war ich trotzdem, wie es werden würde.
Es ist alles gerichtet für den großen Wettbewerb der kleinen Vorleser. Teelichter brennen, Lebkuchen und Mandarinen liegen bereit. Die CD mit Weihnachtsgedichten dreht bereits im Player. Das Deutschlehrer-Team hat einiges getan, um die Atmosphäre heimelig zu gestalten. Nicht nur für die mutigen Vorleser, die gleich ins Rampenlicht – sprich an den Lehrertisch – treten werden. Auch für die neunköpfige Jury. Der gehören drei Deutschlehrer, zwei Journalisten, ein Mitglied der Schülermitverwaltung, eine Elternbeirätin und der stellvertretende Schulleiter Michael Kreil an.
Die geballte Sprachkompetenz also, die auf die Schüler wartet. Zunächst allerdings passiert – nichts. Eigentlich sollte die erste von drei Klassen schon im Raum sitzen. Doch sie fehlt.
Marina Kleinhenz schaut vor die Tür. Die Schüler warten vor einem anderen Raum: „Wir dachten, wir hätten jetzt Deutsch.“ Allzu sehr im Mittelpunkt scheint der Vorlesewettbewerb bei den Sechstklässlern ja nicht zu stehen, wenn sie dessen Termin vergessen.
Bei Annalea und Laura aus der 6 a ist das sicher anders. Sie gehören zu den sechs Freiwilligen, die sich Publikum und Jury stellen werden. Es sind ausnahmslos Mädchen. Die holde Männlichkeit hält sich vornehm zurück. „Weil wir halt besser in Mathe als in Deutsch sind“, wird Erik aus der 6 c später erklären.
Annalea beginnt. „Dackelblick“ heißt das Buch, das sie sich ausgesucht hat. Jede Vorleserin darf zuerst eine Passage aus einem selbst gewählten Buch vortragen. Dann kommt eine aus einem von den Lehrern bestimmten Werk. „Das Weihnachtswunschzettelbuch“ heißt es.
Wir Jurymitglieder sollen zuhören – und dann entscheiden. Von einem bis fünf Punkte gibt es für jedes Kriterium zu verteilen und wie die Kriterien aussehen, steht auf einem vorher ausgeteilten Handzettel. Um die Lesetechnik geht es da, also ob der Vortragende den Text sicher und flüssig abliest. Kleine Versprecher sollen wir nicht zu genau nehmen, wird ausdrücklich mitgeteilt. Hätte ich eh nicht gemacht, finde ich es doch echt mutig, dass die Mädels sich überhaupt mit einem Buch vor die Klasse wagen.
„Textgestaltung“ nennt sich das zweite Kriterium. Hier geht es darum, Stimmung und Atmosphäre des Textes an die Zuhörer zu vermitteln. Beim dritten Stichpunkt, dem Textverständnis“, soll eingeschätzt werden, ob der vorbereitete Textabschnitt in sich schlüssig ist und ob Anfang und Ende verständlich sind. Kann das Kind den Auszug kurz und in Bezug zum gesamten Buch darstellen? Wird die vorgegebene Lesezeit von drei bis fünf Minuten eingehalten? Dieses Kriterium ist für mich am schwierigsten zu bewerten. Man muss sich sehr konzentrieren.
Annalea liest ihren Wahltext flüssig. Sogar ein gewisser Ausdruck steckt drin. Beim vorgegebenen Text holpert es dagegen etwas.
Nachdem sie fertig ist, sind wir dran. Und ich habe ein Problem: Eigentlich fand ich Annalea gut; aber soll ich ihr jetzt die volle Punktzahl geben oder darauf warten, ob noch bessere kommen?
Ich habe zwar ein paar Noten im Kopf, schaue aber sicherheitshalber zu meinem Nebenmann. Der ist Deutschlehrer, wird schon wissen, wie man Schüler bewertet.
Doch mein Seitenblick verunsichert mich eher, als dass er Klarheit bringt. Der hat Annalea ja ganz anders bewertet, als ich es getan hätte. Ich entscheide, meine Noten noch nicht in den Bogen einzutragen.
Die Entscheidung ist richtig, denn jetzt kommen Kandidatinnen, die ich vor, aber auch hinter Annalea einordnen würde. Die einen lesen zwar flüssig, aber ohne viel Ausdruck. Andere quälen sich etwas durch die Zeilen.
Paula aus der 6 c aber – bei der stimmt fast alles. Sie liest flüssig, ausdrucksstark, wenn auch etwas zu schnell. Sie könnte die Favoritin sein.
Andere Jurymitglieder sehen das anders. Sie glauben, dass Janine aus der 6 b das Rennen macht. Auch sie hat gut gelesen, sich an „Herr der Ringe“ herangewagt.
Am Ende trügt mich mein Gefühl nicht. Paula hat die Jury überzeugt. Und sie freut sich ehrlich, als sie in der Aula als Siegerin verkündet wird. Dabei gibt es nichts als Anerkennung und ein Buch zu gewinnen.
Was hat sie eigentlich gedacht, als sie die vielen Erwachsenen, mit Stiften bewaffnet, im Raum sitzen sah? „Zuerst hieß es, dass nur die Lehrer und meine Mitschüler dabei sind. Doch als ich hörte, dass die Presse da ist, war ich geschockt“, sagt sie. Doch dann fügt sie hinzu: „Irgendwann, als ich las, war es mir egal.“