Der 83-jährige Schleicher zeigt aus dem Fenster seines Hauses nördlich des Gersfelder Stadtzentrum. Durch die Hanglage geht der Blick hinüber zum Truppenübungsplatz. „Da drüben die Häuser das ist Rengersfeld. Und darüber in der Mulde zwischen den Bergen – dort lag Kippelbach“, erläutert er.
„Die Absiedlung war für uns Kinder kein so dramatisches Ereignis. Die Älteren haben da schwerer dran getragen“, sagt Schleicher zum Geschehen vor 70 Jahren. Es habe davor immer wieder Gerüchte gegeben, das Dorf müsse einem Truppenübungsplatz weichen. Bis es schließlich bittere Gewissheit wurde.
Schleichers Eltern fanden nur wenige Kilometer von Kippelbach entfernt ein neues Zuhause. Andere Bewohner zogen 1938 weiter weg. Die Familie des letzten Bürgermeisters des abgesiedelten Dorfs, Rudolf Leuber, ließ sich in Roßbach südlich von Zeitlofs nieder.
Kippelbach lag in unmittelbarer Nähe der nördlichen Grenze des Truppenübungsplatzes zwischen Reesberg, Mittelberg und Rommerser Berg. „Heute geht dort die Panzerstraße des Truppenübungsplatzes vorbei“, erklärt Schleicher. Der „Ur-Kippelbacher“ fügt hinzu: „Für den Straßenbelag haben die Amerikaner nach dem Krieg den Basalt des Reesbergs abgetragen.“ Die US-Armee nutzte bis 1994 den Truppenübungsplatz. Danach übernahm die Bundeswehr das Gelände.
Schleicher zeigt eine Fotoaufnahme von Kippelbach. Darüber ist der Reesberg zu erkennen. Er fährt mit seiner Hand über die Bergkuppe. „So wohlgeformt ist die heute nicht mehr“, sagt er mit Blick auf das Abtragen des Basalts.
In Schleichers Kinderzeit war der Reesberg in der Winterzeit ein beliebtes Skigebiet. Gäste kamen aus Fulda, aber auch aus Frankfurt. Schleichers Vater Wilhelm zählte zu den Dorfbewohnern, die für die Besucher Skier herstellten. Sie wurden aus Eschenholz gefertigt. „Mein Vater war Landwirt. Mit Schreinerarbeiten hat er sich etwas dazuverdient, erklärt Schleicher, der mit sechs Geschwistern aufwuchs. Neben Skiern stellte sein Vater auch Rechen und Särge her. Als die B 279 von Gersfeld nach Bischofsheim gebaut wurde, half Schleichers Vater ebenfalls mit. Für das Zusatzeinkommen war die Familie dankbar.
Nicht nur die Gäste Kippelbergs standen auf Skiern. „Wir haben das auch ausprobiert. Die Skischuhe waren damals an die Bretter angenagelt. Es gab noch keine Bindungen. Waren die Füße klein, wurden mehrere Socken angezogen, dass die Skischuhe passten“, erinnert sich Schleicher.
Der gelernte Maler zeigt auf der historischen Aufnahme von Kippelbach auf ein großes Haus am unteren Rand des Fotos. „Hier wohnte die Familie Wohlmacher. Sie hatten einige Fremdenzimmer. Bei ihnen gab es auch Flaschenbier. In unserem armen Dorf war das damals keine Selbstverständlichkeit.“
Die Wohlmachers waren aber noch aus einem anderen Grund wichtig für die Dorfgemeinschaft. In einem Nebengebäude stellten sie Strom her – auch für die anderen Häuser. Und sie betrieben mit einem kleinen Motor eine Art Sklift. „Der zog die Leute an einer Seilwinde nach oben, wenn auch nur einige Meter“, erklärt Schleicher.
Der Skilift, der heute noch oberhalb des einstigen Dorfs auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes steht, wurde später von der US-Army errichtet. „Ich war auch öfter oben zum Skifahren. Die Amerikaner waren da nicht so“, sagt Schleicher. Seit die Bundeswehr auf dem Gelände das Sagen habe, sei der Skilift nicht mehr in Betrieb.
Die Winter waren kalt und schneereich. „Dann war das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten“. Die Schüler, die 20 Minuten Fußweg entfernt in Rengersfeld in die Schule gingen, mussten sich im Winter durch die weiße Pracht kämpfen.
Durch die langen Winter und die kurzen Sommer ließen sich in der Landwirtschaft keine Reichtümer erwerben. Nur: „Das Heu bei uns war sehr gut. Aber wir mussten am Berg alles von Hand mähen“, erklärt Schleicher, „ich hab das auch noch gelernt“.
Von dem abgesiedelten Dorf ist nur noch die Dorflinde übrig. „Der Baum stand auf unserem Grundstück. Darauf bin ich stolz“, sagt Schleicher, der sich für die Treffen der ehemaligen Kippelbacher einsetzt.