Die Fragezeichen sind noch immer groß: Warum tuschelte man im Dörfchen Willmersbach über jene Familie, in der es seit Jahrzehnten zum Inzest gekommen sein soll, ohne konkret etwas zu unternehmen? Warum dieses lange Schweigen? „Das ist aus meiner Sicht ein Gruppenprozess. In so einer kleinen Gruppe gibt es ein dichtes Loyalitäts- und Abhängigkeitsgeflecht“, sagt Günter Niklewski, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg. Und offensichtlich habe auch das Bewusstsein dafür gefehlt, dass Inzest ein schlimmes Vergehen ist: „Wir reden hier ja von einer schweren Straftat.“
Mehr als drei Jahrzehnte lang soll sich ein Vater an seiner Tochter vergangen und drei Kinder mit ihr gezeugt haben. Erst eine Bewährungshelferin, die dem mutmaßlichen Opfer nach einer Straftat zur Seite gestellt worden war, brachte den Fall ans Licht. Im Dorf gab es Gerüchte - aber niemanden, der handelte.
Anzeige enthüllt Reihe von Missbrauchsfällen
Parallelen werden erkennbar zum unterfränkischen Dorf Eschenau. Als die in Amerika lebende Heidi Marks 2007 in ihr Heimatdorf zurückkehrte, sorgte sie mit einer Anzeige für die Enthüllung einer Reihe von zum Teil bereits verjährten Missbrauchfällen. Ein Mann wurde zu einer Haftstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Ein weiterer Beschuldigter erhängte sich vor Prozessbeginn. Gerüchte über weitere Missbrauchsfälle kursierten.
In Eschenau (Landkreis Haßberge) kam es wegen der Ereignisse zu tiefen Zerwürfnissen. Auf Versammlungen sollen die Opfer diffamiert worden sein. Und auch hier brandeten Fragen auf: Warum wurde niemand früher aktiv? Warum galt Heidi Marks bei vielen als Nestbeschmutzerin statt als mutige Aufklärerin?
200 Seelen-Dorf zerstritten
Die Bewohner im 200-Seelen-Dorf waren so zerstritten, dass die evangelische Kirche sich einschaltete und für Versöhnung warb. „Verdrängen hilft keiner Menschenseele, den Opfern nicht und den Tätern nicht“, sagte der damalige Regionalbischof Wilfried Beyhl. Sexueller Missbrauch und Vergewaltigungen seien Verbrechen und schwere Schuld. „Als Kirche müssen wir darauf achten, dass das nicht vertuscht oder kleingeredet wird.“
Dabei gilt ein Dorf doch gemeinhin als Beispiel für Zusammenhalt: Da ist angeblich die Welt noch in Ordnung, wo jeder jeden kennt. Die Fälle Willmersbach und Eschenau jedoch haben gezeigt, dass so ein kleines Dorf auch zu einem gefährlichen Biotop werden kann, in dem der Mantel des Schweigens nur allzu gerne ausgebreitet wird.
„Wer will schon in der Dorfgemeinschaft als Denunziant dastehen?“
„In einer Großstadt schützt die Anonymität und macht es leichter, auf Gewalt hinzuweisen“, sagt Niklewski. „Wenn man an einer Ecke eine Schlägerei sieht, ist es kein Problem, die Polizei zu rufen.“ Anders sei das im Dorf - und vor allem bei Sexualdelikten: „Wer will schon in der Dorfgemeinschaft als Denunziant dastehen?“ Ist ein Fall aber erst einmal ans Licht gekommen, greife ein Mechanismus: „Man will nicht wahrhaben, dass eine Straftat stattgefunden hat.“ In Willmersbach hatte Bürgermeister Jürgen Mönius erklärt, sein Dorf fühle sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Es hätten schließlich konkrete Beweise gefehlt, um etwas zu tun. Heidi Marks hat inzwischen ein Buch veröffentlicht und darin ihre Kindheitserlebnisse geschildert. Bei einer Lesung hatte sie gesagt: „Ich fühle mich befreit, ich habe keine Angst mehr.“