Am Anfang stand eine gute Idee. Ein „intersoziales Theaterprojekt“, unterstützt vom Bundesprogramm „Toleranz fördern-Kompetenz stärken“, von der Stadt Würzburg, vom „Bündnis für Zivilcourage“, vom „Lokalen Aktionsplan“. Von Lehrern und Sozialarbeitern. Und von Sozialpädagogin und Theatermacherin Heike Mix und dem Theater am Neunerplatz. „About a girl“, „Über ein Mädchen“, heißt das Stück, das Schülerinnen und Schüler der Förder- und der Mittelschule in der Zellerau gemeinsam auf die Bühne bringen sollten.
Sollten. Es kam nicht dazu. Die für Juli angekündigten Aufführungen wurden abgesagt, Bühnenbild, Flyer, Plakate sind Makulatur. Warum? Wegen der Schüler. Sie, die sich oft, und oft nicht zu Unrecht, chancenlos fühlen und unterprivilegiert, haben diese Chance vertan.
Theaterstück hat viel zu tun mit der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen
Zwölf Jungs und Mädchen, zwölf bis 15 Jahre jung, manchen mit, manche ohne Migrationshintergrund, alle in der Förder- oder in der Mittelschule, hat Heike Mix im Januar für das Theaterstück „gecastet“. „About a girl“ ist die Geschichte von Cindy, deren Familie in die Armut rutscht. Wegen ihrer billigen Klamotten macht ihr die Mädchen-Clique um Jacky das Leben schwer. Als eine Nachbarin Cindy den Tanzkurs bezahlt, den auch Jacky und ihre Freundinnen besuchen, lädt der beliebte Justin Cindy zum Abschlussball ein - und die anderen Mädchen solidarisieren sich mit ihr.
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Das alles hat viel zu tun mit der Lebenswirklichkeit der gecasteten Zwölf. „Für die Mittelschüler sind wir die von der Deppenschule“, sagt Förderschülerin Adriana* bei einer Probe im Theater am Neunerplatz, „die Doofen, die Versager“. Regisseurin Heike Mix erzählt, dass die beiden Gruppen sich vor vier Monaten noch auf der Bühne angespuckt haben.

Aber was heißt hier Regisseurin. Bei „About a girl“ ist Heike Mix viel mehr Sozialpädagogin als Theatermacherin. Kämpft geduldig gegen Ignoranz und Respektlosigkeit und Unpünktlichkeit und Rücksichtslosigkeit... Und gegen die Handys, die mit den Schülern verwachsen zu sein scheinen, die sie nicht mal während der Proben aus der Hand legen. „Ich glaube, dass manche nur hierher kommen, weil das Theater Wlan hat“, sagt die Theaterfrau. Vor ein paar Tagen hat Nevenka sie „Fotze“ genannt. Sila hat sie in den Hintern getreten.
Mix hat Großes mit den Jugendlichen vor - aber „in kleinen Schritten“
Trotzdem. Sie will den Jugendlichen Dinge beibringen, die sie brauchen - und die andere in ihrem Alter längst beherrschen. Und kaum ausgeprägte Kreativität will sie fördern, schwache Persönlichkeiten stärken. Das Ganze „in kleinen Schritten“, ohne „allzu große Erwartungen“.
Und was machen die Schüler? Die von der Förderschule kommen meistens vollzählig und pünktlich zu den seit Februar zweimal wöchentlich stattfindenden Proben, die meisten haben ihre Texte gelernt. Das Theaterprojekt ist Teil ihrer Nachmittagsbetreuung. Die Mittelschüler haben frei, wenn ihr Schulunterricht beendet ist. Viele verwechseln Freiwilligkeit mit Beliebigkeit. Eltern, die sie pünktlich zu den Proben schicken, haben sie offenbar nicht.
„Die Mix soll sich nicht so anstellen, wenn ich schwänze“, schreibt ein Mädchen auf facebook, „die braucht mich mehr als ich sie“. Nachdem die Schülerin sich noch weitere Unverschämtheiten geleistet hat, schmeißt Heike Mix sie raus.
Oft geht die Regisseurin morgens in die Schule und erinnert an die Proben. Trotzdem fehlen nachmittags wieder Schüler. Eine ist auf Kiliani, eine andere macht mit der Mutter einen Stadtbummel, die dritte hat Bauchweh und wenn sie nicht kommt, kommt ihre Freundin auch nicht...
„Zu heiß“, „Kein Bock“, „Ist mir scheißegal“
Sollen die Probenschwänzerinnen erklären, warum sie nicht da waren, zucken sie mit den Schultern. „Weiß nicht.“ „Zu heiß.“ „Kein Bock.“ Dass die anderen nicht arbeiten können, wenn sie fehlen, interessiert sie nicht. „Ist mir scheißegal“, bellt Anisa Heike Mix im Theater an, „ich hab auch schon oft auf Leute gewartet“.
„Sie haben nicht kapiert, dass das ein Gemeinschaftsprojekt ist, ihnen fehlt die Solidarität“, sagt Regieassistentin Martina Lang. Auch sie ist Sozialpädagogin, Heike Mix hat sie ins Boot geholt, als die Aufführung um Pfingsten herum zum ersten Mal zu platzen drohte. Zu zweit haben sie den Zwölfen ins Gewissen geredet. Bei der nächsten Probe waren alle da. Bei der übernächsten fehlten wieder welche.
Auch bei der vorletzten Probe vor der Premiere ist das Team, das keines ist, nicht vollzählig. Und von denen, die da sind, können viele ihre Texte nicht. Als auf der Bühne alles aus dem Ruder läuft, die Schüler sich mit Bällen bewerfen und die Kulissen beschmieren, wird die Probe abgebrochen. „Wenn die Generalprobe nicht funktioniert, ist Ende“, sagt Martina Lang, „dann sagen wir die Aufführungen ab“. Die Schüler grinsen.
Generalprobe: Was sich auf der Bühne abspielt, ist katastrophal
Wenigstens sind zur Generalprobe alle da, was aber auch daran liegen mag, dass sie während der Schulzeit stattfindet und die Lehrer sie ins Theater geschickt haben. Zum soundsovielten Mal erklärt Heike Mix, dass es nun ernst ist. „Es ist jetzt wie bei der Aufführung vor Publikum in zwei Tagen. Ich sitze nur da, ich unterbreche nicht, ich helfe nicht bei Texthängern.“ Schon Minuten später wird klar, dass das nicht funktioniert. Florian, für das Licht auf der Bühne verantwortlich, ist auf dem Klo. Manuel, zuständig für den Ton, schreibt eine SMS. Nevenka und Laura werfen die Schweigelollis auf die Bühne. Adriana, Rubina und Sila können ihren Text nicht. Anisa, Nabil, Nicole und Vanessa schubsen sich. Danielle isst die Chips, die als Requisite gedacht sind. Fast alle haben ihre Handys mit auf die Bühne genommen, alle tippen darauf herum, während sie ihre Texte herunter leiern. Weniger Konzentration ist gar nicht möglich.
Heike Mix tut alles, was sie eigentlich nicht tun wollte. Sagt Texte ein, gibt Anweisungen, unterbricht. Hinten im Zuschauerraum sitzt Sven Höhnke. Er leitet das Theater am Neunerplatz, das bekannt ist für seine engagierten und erfolgreichen Kinder- und Jugendproduktionen. Die Regisseurin hat ihn gebeten, bei der Generalprobe dabei zu sein. Was sich auf der Bühne abspielt, ist katastrophal.
„Wir sagen die Vorführungen ab.“
Nach einer halben Stunde geht gar nichts mehr. Heike Mix ist enttäuscht, Sven Höhnke ist fassungslos. Klare Ansage an die Schüler: „Wenn der zweite Teil nicht besser wird, wird die Produktion abgesagt. Ihr habt jetzt zehn Minuten Pause. Nutzt sie zum Nachdenken. Und seid pünktlich um 11.45 Uhr wieder hier.“
Um 11.45 Uhr sind nur Heike Mix und Sven Höhnke da. Die ersten Schüler kommen um zwölf, die letzten pflückt die Regisseurin um 12.15 Uhr vom benachbarten Schulhof. Adriana ergreift das Wort. „Ich möchte gerne, dass das Stück stattfindet“, sagt sie. Und dann, ganz leise: „Wenn wir alle zusammenhalten und uns Mühe geben, klappt das.“
Aber sie halten nicht zusammen und sie geben sich keine Mühe. „Ende“, sagt Heike Mix nach der Schlussszene, „wir sagen die Vorführungen ab“. Sven Höhnke nickt. Zwölf unglaubige Augenpaare richten sich auf die Theaterleute. „Echt?“, fragt Rubina ungläubig. „Ganz echt!“, antwortet der Theaterleiter. Die Schüler schauen drein, als würden sie zum ersten Mal in ihrem Leben Konsequenz erleben.
„Ihr habt kein Vertrauen zu uns“
Nabil packt seine Sachen, haut ab, knallt die Tür zu. „Ich verbessere mich“, schluchzt Rubina. „Dafür hattest Du ein halbes Jahr Zeit“, sagt Sven Höhnke. Nevenka zickt Heike Mix an: „Den Tanz haben Sie nur zwei Mal mit uns geübt“. Die Regisseurin holt ganz tief Luft. „Wir haben ihn oft geübt“, sagt sie, „aber Du warst halt nur zweimal da.“ Anisa bockt: „Ich will das machen!“ „Ihr habt kein Vertrauen zu uns, sonst würdet ihr uns auftreten lassen“, schreit Danielle. „Wir haben seit Januar Vertrauen zu Euch gehabt“, sagt Heike Mix, „jetzt ist es vorbei“. Nevenka, die die Regisseurin vor ein paar Tagen noch „Fotze“ genannt hat, schaut sie mit großen Augen an: „Wir sind doch nur Kinder, Sie müssen Verständnis für uns haben.“
Heike Mix ist traurig. Sie hätte das Stück gerne auf die Bühne gebracht, hätte den Schülern gerne zu einem Erfolgserlebnis verholfen. „Die Produktion abzusagen, war eine schwere Entscheidung, aber sie war richtig“, sagt sie, „auf der Bühne hätten sich alle blamiert“. Auch Sven Höhnke ist niedergeschlagen: „Es ist das erste Mal in der Geschichte des Theaters am Neunerplatz, dass eine Produktion es nicht auf die Bühne schafft".
Wenn es schon nicht geglückt ist, nach einem halben Jahr intensiver Arbeit „About a girl“ aufzuführen - ist es dann wenigstens gelungen, Toleranz zu fördern und Kompetenz zu stärken? Heike Mix überlegt. „Wir haben es geschafft, dass Mittel- und Förderschüler sich die Hände gegeben haben", sagt sie, „und sie haben sich nicht mehr angespuckt.“
* Die Namen der Schüler wurden von der Redaktion geändert.
Die Serie Lieblingsstücke Es sind Geschichten, die unseren Autoren im Gedächtnis geblieben sind. Geschichten, die sie berührt, herausgefordert, erheitert haben. Es sind ihre Lieblingsstücke, die sie teilweise vor noch gar nicht allzu langer Zeit, teilweise vor vielen Jahren geschrieben haben. Und die wir wieder aufleben lassen, in Erinnerung rufen möchten. Doch nicht nur das: Die Autoren haben sich nachträglich noch einmal Gedanken gemacht, ihr Thema neu aufbereitet, reflektiert, neue Zeilen geschrieben. Und auch die gibt’s auf mainpost.de zu lesen – in unserer Serie: Lieblingsstücke.
Der Originaltext „Chance gehabt, Chance vertan“ von Gisela Schmidt ist im Juli 2013 erschienen.