Rainer Gerber aus Sailershausen ist so etwas wie ein Arzt. Er untersucht Patienten und stellt Diagnosen, seine Instrumente liegen immer in seinem Auto parat. Spezialisiert hat er sich auf Hausbesuche. Das ist auch notwendig, denn die Patienten können nicht zu ihm kommen.
Nicht Menschen sind es, die Gerber auf Krankheiten und Sicherheitsrisiken untersucht, sondern Bäume. Uralte Riesen und junge Emporkömmlinge. Seine Praxis schlägt Gerber immer dort auf, wo seine Patienten wurzeln: in einem Park, an einem Straßenrand, auf einer Wiese.
Gerber ist von Beruf Baumgutachter. Gerufen wird er immer dann, wenn ein Baum die Sicherheit von Menschen gefährden könnte. Zum Beispiel, weil er an großen Stellen morsch oder gar hohl ist. Dann muss Gerber den Baum untersuchen und entscheiden, was weiter mit ihm passieren soll. Ob er so bleiben kann, wie er ist. Ob er gestutzt oder gar gefällt werden muss.
Kein leichter Job, denn die Interessen der Menschen gehen nicht immer in die gleiche Richtung. Manche fürchten sich vor Bäumen, die gesund sind, und würden sie am liebsten loswerden. Andere möchten Bäume am Leben halten, koste es, was es wolle. Gerbers Prinzip ist aber einfach: Er entscheidet sowohl für die Gesundheit des Baumes als auch für die Sicherheit des Menschen. Beeinflussen lässt er sich nicht, sagt er. Er hält sich an seine Messergebnisse. Diagramme, Kurven und Zahlenwerte, alles Ergebnisse von eingehenden Untersuchungen mit technisch aufwändigen Geräten.
Auf einem Wiesenrangen am Humprechtshäuser Friedhof stehen zwei Linden. Vor zwei Jahren waren sie einmal Gerbers Patienten. Pilzbefall und Höhlungen hatten ihren Stamm geschwächt. Die Krone mit ihren ausladenden Ästen wog zu schwer auf ihm. Heute ist das Lastverhältnis zwischen Stamm und Krone bei beiden Bäumen ausgeglichen. Als Gerber die Bäume untersuchte, empfahl er, bestimmte Teile von Ästen aus der Krone zu schneiden. Das hat man getan.
Heute steht Gerber wieder vor den beiden Linden. Bewaffnet mit einem Gummihammer und einem dünnen, metallenen Stock, einer so genannten Sonde. Mit dem Hammer klopft er auf verschiedene Stellen einer der beiden Linden. Tatsächlich: Mal ist das Geräusch fest, mal klingt es dumpf nach. Der Baumstamm ist hohl, aus ihm klafft sogar ein großes Loch. Wie hohl der Baum tatsächlich ist, das zeigt Gerber mit der Sonde. Er sticht mit dem dünnen Stab in die runde Öffnung. Der verschwindet zu etwa ein Drittel im Baum. Kurvendiagramme auf einem Blatt Papier zeigen die gesunden und faulen Stellen noch einmal genauer. Die hat Gerber durch den Einsatz von speziellen Geräten zur eingehenden Untersuchung von Bäumen gewonnen.
Das Besondere an Baum-Patienten: Kaputtes Holz kann nie wieder heil werden. Stattdessen gleicht der Baum eine kranke Stelle dadurch aus, dass er an einer anderen Stelle neues Holz bildet. Gerber als Baumdoktor kann also nicht zaubern. Aber er kann Bäumen dabei helfen, sich selbst länger am Leben zu halten. Und genau das ist es, was den Diplombiologen an seiner Arbeit reizt: die Arbeit am Lebewesen.
Das war nicht immer so. Früher arbeitete Gerber als Schreiner. Da bestimmte zwar auch Holz seinen Alltag, aber es konnte nicht mehr wachsen wie ein lebendiger Baum. Heute verbringt er als Baumgutachter auch mal mehrere Tage und Wochen draußen. Selbst im Winter. Doch auch im Büro hat Gerber einiges zu tun. Analysen müssen ausgewertet, neue Angebote geschrieben werden.
Sein Einzugsgebiet ist dementsprechend groß. Der Sailershäuser bewegt sich in einem Radius von 250 bis 300 Kilometern. Neulich habe er in Bad Brückenau die so genannte König-Ludwig-Eiche untersucht. So lange habe er noch nie für einen einzigen Baum gebraucht. Zwei Tage sei er nur draußen gewesen und habe den Baum untersucht. Sieben Meter Umfang, immense Höhlung und waagrechte Starkäste, die jeder für sich wieder den Durchmesser von einem ganzen Baum haben. Gerber ist sichtlich beeindruckt.
Ebenso von einem anderen Großprojekt in Gotha: Dort soll er im Schlosspark einen Baumkataster erstellen. Nicht weniger als 4000 Bäume seien da zu erfassen, und zwar mit allen Details. Alter, Höhe, Anzahl der Stämme, Defekte und so weiter. In fünf Wochen hat er schon 1200 Bäume geschafft, der Rest kommt noch.
Einen typischen Arbeitstag gibt es bei Gerber nicht. Jeder Tag verläuft ein bisschen anders, sagt er. Doch eine Sache bleibt immer die gleiche: die Arbeit an Stämmen, Ästen und Zweigen. Mit Bäumen werde es nie langweilig. Niemals.