Mutter steht am Herd und rührt die Bratenschwitze an. „Bubi, komm mal schnell her und rühre mal die Schwitze weiter, ich muss noch schnell einen Rocksaum umnähen, aber lass mir ja nichts anbrennen, immer schön langsam rühren, wenn es kocht dann rufe mich.“ Mutter geht zurück in die Wohnstube zu ihrer Nähmaschine. Mutter ist Damenschneiderin, sie muss noch ein Kleid fertig nähen.
Ich rühre, wie mir geheißen, es geht mir aber zu langsam, bis die Soße kocht, ich schleiche mich an den Küchenschrank, suche das Glas mit der Erdbeermarmelade, um einen Löffel voll zu naschen, hoffentlich hört Mutter nicht die Schranktür quietschen, es bleibt ruhig aus der Ferne, die Nähmaschinengeräusche übertönen die Schranktür. Gerade will ich mit Genuss noch einen Löffel voll zu Munde führen, ein kurzer Seitenblick zum Herd, oh Gott, die Schwitze kocht fast über die Pfanne, schnell hin und rühren.
Mutter in der Stube riecht etwas, da stimmt doch etwas nicht in der Küche, natürlich. „Bubi du hast nicht genug gerührt, die Schwitze ist ganz klumpig, die kann ich jetzt wegschmeißen, ich muss eine neue ansetzen. Warum steht die Küchenschranktüre offen, was hast du mit dem Glas Erdbeermarmelade vor, natürlich, du hast wieder heimlich genascht, du Laushammel, ich habe es dir schon so oft verboten.“ Blitz und Donner muss ich über mich ergehen lassen. Wenigstens gibt es diesmal keine Ohrfeige. „Zur Strafe gehst du jetzt zum Falkenstein, hier sind fünf Mark, und holst ein Pfund Salz, das letzte habe ich gerade in die angebrannte Schwitze getan. Aber komm sofort wieder, ich brauche das Salz.“
Es ist ein warmer Frühlingstag 1938, zum ersten Mal habe ich wieder kurze Hosen an, lange Strümpfe die mit je zwei Strapsen, mit einem Laibchen am Oberkörper gehalten werden. Sauber schaut er aus der Bursch mit seinen gut sechs Jahren, kein Wunder seine Mutter ist ja Schneiderin.
Also, nichts wie hinunter auf die Straße – die Wohnung meiner Eltern war im Arnoldhaus in Königsberg, erster Stock. Frohgelaunt, voll mit Tatendrang, fünf Mark in der Hosentasche wohlverwahrt, was hat Mutter noch gesagt, ich darf mir, wenn ich das Salz habe, noch für zwei Pfennige Waffelbruch beim Bäcker Krapp gegenüber kaufen. Für zwei Pfennige, das gibt – muss mal überlegen – für einen Pfennig gibt es eine kleine Tüte Waffelbruch, dann muss es für zwei Pfennige eine doppelte, große Tüte Waffelbruch geben. Ich werde sehen. Vielleicht für einen Pfennig eine kleine Tüte Waffelbruch, und für einen Pfennig einen Löffel Eis.
Das silberne fünf Reichsmarkstück im Hosensack juckt, es muss mit dem Teufel zu gehen, eine runde Scheibe, die sich doch auch zum Spielen eignet. Ein Griff nach unten hinein, schon glänzt die Scheibe in der Sonne im offenen Händchen, verführerisch, will bewegt werden. Heirasahhh-heirasahhh wie schön und weit rollt die silbrige Scheibe auf dem mit Platten belegten Gehsteig zur Post, hinunter auf die Straße bleibt im Staub liegen – die Straße war noch Naturstraße, bei Regenwetter ein Flotsch.
So nun erst einmal durchs Haßfurter Tor, ich nähere mich schon dem Salz, mal sehen wie die Scheibe auf dem Kopfsteinpflaster hüpft. In die Hocke, die kleine Scheibe zwischen Daumen und Zeigefinger, den rechten Arm nach hinten. Anlauf, mit Schwung nach vorne, loslassen, welch eine Gaudi, eine wahre Freude für das Kinderauge und Herz.
Voll kindlichem Übermut, ein neues Spielzeug gefunden zu haben, die fünf Reichsmark in Silber (damals für viele ein halbes Vermögen), meine Mutter bekam für ein Kleid zu nähen 20 Mark, und drei Tage Arbeit. Von Kopfstein zu Kopfstein hüpfend, ich hinterher springend.
Die Lisbeth, krumm und bucklig geschafft, runzlig, mit langen bis auf den Boden reichenden Röcken übereinander, mit Kopftuch, den Kropf am Hals mit einem selbststrickten Schal gebändigt, steht vor dem Hoftor, und sieht sich das Schauspiel kopfschüttelnd an, murmelt in sich hinein: „Haben denn die heutigen Bangerten überhaupt keinen Respekt mehr vorm Geld“, derweil die silbrige Scheibe immer mehr aus der ursprünglichen Bahn kommt und immer mehr, die Straße überquerend, auf das Haus vom Postboten Adler zusteuert und, oh Schreck, plötzlich verschwunden ist.
Das silberne fünf Reichsmarkstück ist im Straßenkanalisationsschacht unwiederbringlich verschwunden. Der eiserne Schachtdeckel mit seinen Schlitzen sieht aus wie der Schlitz meiner Sparbüchse. Ich hocke, die Knie angezogen vor dem Schlitz, der Schacht voller Schlamm, der eiserne Schachtdeckel zu schwer für mich und das gerade vor dem Postboten-Adler-Haus, wo niemand zu Hause ist, der mir helfen könnte. Hat sowieso keinen Wert mehr, im Schlamm zu wühlen, ist sicher schon weiter nach unten gefallen.
Oh Jemmerneh, oh Jemmerneh, wie soll ich das meiner Muter beichten? Welch ein Unglück an so einem schönen warmen Frühlingstag des Jahres 1938, wo doch das Geldstück solch schöne Sprünge gemacht hat. So hocke ich armer Sünder, starre ins Loch, die Münze kommt nicht mehr zurück. Mutter wartet zu Hause auf das Salz. Mir kommen die Tränen in Erwartung einer saftigen Tracht Prügel. Du Laushammel, Taugenichts, Tunichtgut und so weiter, unser sauer verdientes Geld, damit spielt man nicht. Ich habe die schlimmsten Vorahnungen, was da auf mich zukommt.
In meinen Grübeleien bemerke ich gar nicht den Schatten, der sich über mich beugt. Ich sitze immer noch zusammengekauert über dem Straßenwassereinlaufschacht. Warum muss das ausgerechnet mir passieren? Ich drehe meinen Kopf nach oben, will sehen, wer den Schatten wirft. Vielleicht hat Gott mein Gebet erhört und schickt mir seinen Engel, der die fünf Reichsmark für mich aus dem Schacht holt, aber welch ein Anblick kommt mir da entgegen.
Es ist die Lisbeth, die gebückt über mir steht. Ihr Kropf aus dem selbst gestrickten Schal in seiner ganzen Größe und Schönheit baumelt nur wenige Zentimeter über meinem Gesicht. Ihr vom wollenen Kopftuch eingerahmtes, von harter Feldarbeit und Alter runzeliges Gesicht mit der spitzen Nase erinnerte mich an eine Gestalt aus dem Buch von Wilhelm Busch, das ich letzte Weihnacht von meiner Tante bekam. Sie hätte nun die Möglichkeit, mir ein paar ordentliche Watschen zu verpassen, weil ich sie als Lausbub immer wegen ihres Aussehens verärgert habe, aber nichts dergleichen geschah.
Lisbeth: „Na Bub, jetzt ist dein Silberling fort. Wirst wohl eine Tracht Prügel von deiner Mutter bekommen. Mit Geld spielt man nicht.“ Mir laufen die Tränen über die Backen. Lisbeth: „Da nimm meinen Rockzipfel und wisch dir die Tränen ab und hör auf zu heulen. Mach dass du hemm kummst, sonst macht sich deine Mutter Sorgen, wo du so lange bleibst. Soll ich mit dir hemm gehn, ich geh schon mit dir hemm, wenn du Angst hast. Wenn ich dabei bin, wird dir nichts geschehen. Nee.“
So wischte ich meine Tränen an Lisbeths langen Rockzipfel ab ... ... es sollte niemand sehen, dass ich geheult hab, sonst werden die nur neugierig, schließlich kennt mich jeder im Städla.
Gevatter Braun, geht auch schon auf die Neunzig zu, sitzt schon den halben Tag hinterm Fenster, schaut gelangweilt auf die Straße, sieht vorm Fenster die Lisbeth vorbeihuschen. Da muss doch etwas passiert sein, öffnet das Fenster, ist neugierig, ist doch gut, dass er heute nicht zum Rübenhacken hinaus ist, sonst hätte er das beim Adlernachbar gar nicht mehr erlebt.
Er sieht die Lisbeth über die Straße gebückt gehen. Die Lisbeth, alte Jungfer, hat auch keinen gefunden, muss auch schon an die Siebzig sein oder mehr. War früher auch mal ein sauberes Mädla, die Nachbarin, aber keine Mitgift. Warum fuchtelt sie nur so mit den Armen in der Luft herum und gackert so aufgeregt. Er ruft zum Fenster raus: „Woos ist da denn los.“ Lisbeth: „Nichts für dich.“ Er: „Woos ist los?“ Lisbeth: „Nichts is los. Gib mal dem Bub fünf Mark, damit er wieder hemm kann.“ Er: „Wo is a Bub?“
Vor lauter Röck sieht er keinen Bub. Er: „Woos soll ich gebn?“ – „Du sollst dem Bub fünf Mark geben.“ – „Woos, fünf Mark, ich weiß ja gar net wie fünf Reichsmark aussehn.“ Lisbeth murmelt etwas in den Bart hinein, hört sich an wie „alter Simpel“.
Total niedergeschlagen befreie ich mich von der Lisbeth, krieche unter der Last ihrer Körperteile hindurch und ergreife die Flucht zum Mauerweg. Heim kann ich nicht, ist zu riskant. Jetzt gehe ich erstmal zum Versteck meiner Kumpanen, zum Bretterlager vom Schreiner Merz, draußen bei der Scheune vom Brocklos, mit dem großen Frühapfelbaum, dem Zufluchtsort meiner Kameraden und mir, wenn wir im Städla einen Lausbubenstreich, etwas ausgefressen, ausgeheckt, oder wieder einmal einen Alten geärgert haben, und die Verfolger hinter uns her waren. Aber hier kann ich auch nicht lange bleiben, ich könnte entdeckt werden.
Schreiner Merz schiebt seinen zweirädrigen Karren durchs Städla, durchs Haßfurter Tor hinaus zu seinem Bretterlager beim Brocklos, seiner Scheune. Schon wieder muss er einen Sarg, schon den dritten dieses Jahr, zusammenzimmern. Die Leut sterben aber auch weg wie die Fliegen. Nun ihm kann's recht sein, gibt Arbeit. Er sucht die besten Bretter aus. Die wollen einen massiven Sarg haben. ob es was nützt. Da hört er ein dumpfes Geräusch, wie wenn einer vom Bretterstapel herunterspringt. Er geht um den Bretterstapel herum und sieht noch die Beine mit den kurzen Hosen von so einem Laushammel um die Scheunenecke flitzen, wieder so ein Schulschwänzer, Rumtreiber, hat sicher wieder etwas angestellt und sich in meinem Bretterlager versteckt.
Mutter wartete eine halbe Stunde, eine ganze Stunde, wo bleibt der Bubi nur mit dem Salz? Habe ich ihm zu viel Geld mitgegeben, fünf Mark, war schon ein bisschen leichtsinnig. Hoffentlich verprasst er das nicht mit seinen Kumpanen. Der soll nur mal heimkommen.
Lisbeth hockt schon mehr als eine Stunde hinter dem Stubenfenster, das zur Gass nausgeht. Irgendwann muss doch die Pröschla aufkreuzen, um den Bub zu suchen. Ja, da kommt sie ja auch schon durchs Haßfurter Tor gschest. Lisbeth macht das Fenster auf und ruft der Pröschla zu, ob sie ihren Buam sucht. „Ja, den Lausbub habe ich schon seit über eine Stunde zum Falkenstein zum Salz holen geschickt. Möchte nur wissen, wo der sich wieder herumtreibt.“
Nun ist die Lisbeth ganz in ihrem Element, vom Fenster heraus schreit sie der Pröschla zu, was sie mit dem Buam erlebte. Mutter ist ganz fertig, möchte nur wissen, wo er sich verkrochen hat, fragt noch einige Bekannte, die ihr gerade über den Weg laufen, ob sie ihren Bubi gesehen haben, niemand hat ihn gesehen. Zum Falkenstein und zum Krapp muss sie erst gar nicht rein, er hatte ja kein Geld mehr, konnte nichts mehr kaufen.
Da, wie gerufen, kommt der Türmleshans um die Ecke, einer seiner Kumpane, vielleicht weiß er, wo der Bub steckt. „Hans komm mal her.“ Hans schon misstrauisch. Was will denn die Pröschla von mir? „Hast du den Alfred gesehen oder weißt du, wo er steckt?“ Das ist ja etwas Neues, dass Mutter mich beim Namen nennt. Da ist höchste Gefahrenzone angesagt.
Mutter packt Hans am Kragen. „Du verrätst mir jetzt, wo der Bubi ist?“ Hans und die anderen Kumpane hatten großen Respekt vor meiner Mutter, da konnte es schon einmal zu einer Ohrfeige kommen. Wir waren ja erst sechs bis siebenjährige Lausbuben, noch nicht trocken hinter den Ohren.
„So du bleibst mal schön bei mir und zeigst mir euer Versteck.“ So wurde Hans am Schlawitchen gepackt, ein Entrinnen nicht möglich, musste das Versteck im Holzlager vom Schreiner Merz bei der Brocklos Scheune meiner Mutter zeigen.
Aber der Vogel war schon ausgeflogen, Bubi war schon auf dem Weg zum Bahnhof, und wartet auf das Halbachtuhrzügla, noch drei Stunden Zeit. Der kleine Magen rebellierte gewaltig, hat seit dem Frühstückskaffee nichts mehr bekommen. Es ist Frühling, es gibt keine Beeren, keine Äpfel, keine Birnen an den Bäumen, die man stibitzen könnte. Nur junges Gras auf den Sinner's Wiesen, aber halt, mit dem Gras wächst ja auch der Sauerampfer, schön zart die Blätter, wenigstens den Hunger stillen.
Die Zeit geht nicht vorbei, endlich oben am Berglä, bei der „Fränkischen“ erscheinen die ersten Rauchwolken, dann die schwarze Maschine, Berg runter mit Eile, noch ein langer Warnpfiff an die Hellinger Straße, dass sich dort ja keiner aufhält. Schranken brauchst keine, das Kühbäuerle treibt die Viecher an, kommt gerade noch vor der Lokomotive über die Schienen, noch ein Warnpfiff als Drohung.
Jetzt kommen die Arbeiter von den Schweiferter Fabriken heim, war wieder ein langer Tag. Bubi steht ganz vorne, Vater Andreas steigt aus, er ahnt schon, warum Bubi am Bahnhof steht, hat sicher wieder etwas ausgeheckt, und traut sich zur Mutter nicht heim, sucht Beistand bei Vater für eine milde Bestrafung.
„Na Bub, was hast du heute wieder angestellt?“ Mit reuevoller Mine und unter Tränen wird dem Vater das Missgeschick gebeichtet. Vater war natürlich nicht glücklich über den Verlust der hart verdienten fünf Reichsmark, dafür musste er im Jahre 1938 einen Tag lang arbeiten.
Vater ging als erster zur Wohnungstür hinein, dort wartete meine Mutter schon mit einem höllischen Donnerwetter auf mich. „Zur Strafe gehst du heute ohne Abendessen, und sofort ins Bett.“ Die Mehlschwitze kam auch nicht auf den Tisch, dazu fehlte das Salz. Seit diesem Erlebnis, so bis heute, habe ich nie wieder mit Geld gespielt.
Alfred Pröschel
Der Autor dieses Beitrags, Alfred Pröschel, ist in Königsberg aufgewachsen und lebte bis 1952 dort. Dann zog es ihn in die weite Welt. Der 75-Jährige lebt heute im südlichen Schwarzwald. Wir haben schon mehrere Beiträge zur Heimatgeschichte von ihm veröffentlicht.