Was mag wohl im Kopf einer Terroristin vorgehen, die, zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, in einer Gefängniszelle sitzt? Wissen kann das wohl kein Außenstehender, spekulieren lässt sich hingegen viel über diese Frage. Das tat auch die Schriftstellerin Christine Brückner in ihrem fiktiven Monolog „Kein Denkmal für Gudrun Ensslin“. Diesen gab es am Donnerstagabend in der Aula der Freien Waldorfschule zu sehen. Eine zweite Aufführung findet am Samstag um 19.00 Uhr statt.
In der Waldorfschule ist es üblich, dass jeder Schüler in der 11. Klasse ein freies Projekt verwirklichen muss. „Und das ist wirklich völlig frei“, berichtet die 17-jährige Schülerin Jehanne Worch. „Manche bauen etwas, ein anderer läuft einen Halbmarathon.“ Worch selbst ist Mitglied eines Theaterclubs, ihr Vater ist Dramaturg des Fränkischen Theaters Schloss Maßbach. Kein Wunder also, dass sie sich für ein Theaterprojekt entschied. Ihre Mentorin, die Schauspielerin Gertrud Eiselen, war es, die sie auf das Werk von Christine Brückner aufmerksam gemacht hatte. „Erst dachte ich: Das passt überhaupt nicht zu mir“, beschreibt Jehanne Worch im Gespräch mit dem HT ihre anfänglichen Schwierigkeiten mit der Idee, die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin darzustellen. Sie konnte keine Gemeinsamkeiten zwischen sich selbst und ihrer Rolle entdecken. „Aber dann dachte ich mir: Gerade deswegen!“
„Es ist leichter, destruktiv als konstruktiv zu sein“, lässt Brückner Ensslin in ihrem Monolog sagen. Der Text ist ein Teil ihres Werkes „Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“. Neben Ensslin lässt die Autorin darin unter anderem Christiane von Goethe, Katharina von Bora oder Eva Hitler zu Wort kommen.
„Warum kann ich mir Vaters Worte nicht einfach aus dem Kopf reißen wie Unkraut?“, fragt RAF-Terroristin Ensslin in ihrem fiktiven Monolog, den Brückner sie in der Isolationshaft halten lässt. In der Wutrede spricht sie unter anderem über ihre Familie, und besonders über ihren Vater, dessen Stimme der Pfarrerstochter Ensslin nicht aus dem Kopf geht. Immer wieder habe er ihr mit Verweis auf „den leiben Gott“ ein schlechtes Gewissen gemacht. Immer wieder kommen auch ihre Haftbedingungen zur Sprache, ihre Gedanken, die in dem engen Raum ohne Abwechslung um sich selbst kreisen. Es fallen Sätze wie „Isolationshaft ist Folter!“ oder „Ich gehe auf Socken, weil ich meine Schritte nicht mehr hören kann“. Sich und andere inhaftierte RAF-Mitglieder bezeichnet sie als „die Heiligen von Stammheim“.
Auch Gudrun Ensslins altes Leben kommt im Monolog zur Sprache, zusammen mit vielen „Was wäre wenn?“-Fragen. Was, wenn sie in ihrem Alten Beruf als Lehrerin geblieben wäre? Wie würde ihr Leben dann wohl aussehen? Und was wird nun aus ihrem Sohn Felix? Ist sie eine schlechte Mutter, weil sie ihn im Stich gelassen hat? Viele Gedanken drehen sich um Rechtfertigungen. Nicht nur dafür, dass sie ihr Kind allein gelassen hat, sondern auch für die Morde, an denen sie beteiligt war. „Wir sind keine Kriminellen. Wir machen Politik mit anderen Mitteln!“, lässt Brückner die Terroristin in ihrem Stück sagen. Sie will sich nicht als Mörderin sehen und auch nicht als Mörderin gesehen werden.
Auch die Presse und deren Berichte über die RAF sind Thema des Monologs. Hier wirft sie den Medien vor, an ihr und den anderen Terroristen zu verdienen, indem sie sie verteufelt. „Wir bringen mehr ein, als wir kosten, Herr Springer!“, schreit sie dem Bild-Verleger entgegen. Am Ende greift sie zum Kabel eines Lautsprechers, der in ihrer Zelle steht. Das Kabel, mit dem sie sich später selbst erhängen wird.
„Vorher habe ich gedacht, ich sterbe“, erzählte Jehanne Worch nach der Aufführung dem HT. Auch während sie auf der Bühne stand, habe sie zeitweise ein schlechtes Gefühl gehabt und gedacht, ihre Darbietung komme beim Publikum nicht gut an. Doch als ihr nach der Aufführung Zuschauer gratulierten, sei sie positiv überrascht gewesen.
Tatsächlich gelang es der 17-Jährigen, das Publikum alleine mit ihrer Bühnenpräsenz zu fesseln. Knapp eine Stunde dauerte der Monolog, und dennoch kam keine Sekunde Langeweile auf. Schwankend zwischen wütenden Schreien und Momenten voll stiller Angst spielte Jehanne Worch eine Terroristin, die ihrem Umfeld die Schuld an ihren Taten und an ihrem unglücklichen Leben gibt. Inwieweit diese Sicht gerechtfertigt ist, kann sich jeder Zuschauer selbst überlegen. Was die letzten Gedanken der echten Gudrun Ensslin waren, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben.