Knapp 50.000 Menschen haben nach offiziellen Angaben bei dem Erdbeben, das am 6. Februar die Türkei und Syrien schwer getroffen hat, ihr Leben verloren. Die Zahl der Opfer dürfte weiter steigen. Denn immer noch werden Tote aus den Trümmern der eingestürzten Häuser geborgen. "Es gibt niemanden, der sagt, er hat keinen verloren", erzählt Abuzer Kapici. Der Inhaber des Hofheimer Döner- und Pizza-Hauses "Mesopotamia" stammt selbst aus der vom Erdbeben betroffenen Region. Auch er hat Verwandte und Freunde verloren.
Zusammen mit seinem Bruder war Kapici nach dem Erdbeben am Sonntag vor zwei Wochen in die Türkei geflogen, um seine Familie zu sehen und um den Menschen vor Ort zu helfen. Inzwischen ist der 29-Jährige wieder zurück in Deutschland. Als er im Gespräch mit der Redaktion von seinen Erlebnissen im Katastrophengebiet berichtet, sitzt er an einem Tisch in seinem Dönerladen in Hofheim und zückt immer wieder sein Handy. Auf Bildern und Videos, die Kapici vor Ort gemacht hat, sind zerstörte Häuser zu sehen, teilweise nicht einmal mehr als solche erkennbar.
Eindrücke aus der Türkei: Ganze Dörfer im Erdbebengebiet sind zerstört
"Meine Schwester hat erzählt, dass es so schlimm ist", sagt Kapici. Aber die Trümmer und das Leid der Menschen mit eigenen Augen zu sehen, sei dann noch einmal etwas ganz anderes gewesen. "Man muss es selbst sehen." Von Gaziantep aus, wo er und sein Bruder mit dem Flugzeug ankamen, wurde es in Richtung seiner Heimatstadt Adiyaman "alle zehn, zwanzig Kilometer schlimmer", wie der 29-Jährige erklärt. Ganze Dörfer, "komplett kaputt".

Aus den Trümmern, die mithilfe von Lastwagen geräumt werden, wie Kapici berichtet, sieht er vor Ort auch die Gliedmaßen verstorbener Menschen hervorragen, welche unter den eingestürzten Gebäudeteilen zunächst nicht auszumachen waren. "Es war wirklich schlimm", blickt er auf die Eindrücke aus dem Katastrophengebiet zurück. Besonders getroffen habe ihn auch, die Kinder in der Erdbebenregion zu sehen. "Ich habe selbst eine Tochter, die zwei Jahre alt ist", fügt er erklärend an.
"Es gibt niemanden, der sagt, er hat keinen verloren."
Abuzer Kapici, Inhaber des "Mesopotamia" in Hofheim
Auch während seines Aufenthalts bebt die Erde immer wieder, wie Kapici berichtet. "Wir waren im Zelt und wussten, es passiert nichts. Ich war auch ein bisschen ruhiger, weil ich das große Erdbeben nicht miterlebt habe. Aber meine Mutter und meine Schwester hatten Angst." Als am 6. Februar das erste Beben die Region traf, habe die Erde so stark geschwankt, dass sie nicht zur Tür gehen konnten, gibt Kapici die Erlebnisse seiner Familie wieder. Sie seien nach rechts und links getaumelt.
Hilfe für die vom Erdbeben betroffenen Menschen in der Türkei
Zwei Tage seien seine Familie und die Menschen vor Ort ohne Hilfe gewesen, berichtet Kapici. Bei kaltem Wetter, mit Schnee und Regen. Sie hätten zum Beispiel Teppiche, einfach "irgendetwas, was sie gefunden haben", genommen, um sich warm zu halten. In manchen Dörfern habe es sogar fünf bis sechs Tage gedauert, bis Hilfe eintraf. Sein Neffe sei durch die Stadt gelaufen, um nach einem Freund, der etwa zwei Kilometer entfernt lebt, zu sehen. Alle 50 Meter habe dabei aus den Trümmern jemand "Hilfe, Hilfe" gerufen. Für viele kam diese jedoch zu spät.

Abuzer Kapici und sein Bruder indes machten sich von Hofheim aus auf in die Türkei, um den Menschen in ihrer Heimat zu helfen. Mit im Gepäck: eigenes Geld und Spendengelder, die mithilfe einer provisorischen Spendenbox im Hofheimer "Mesopotamia" zusammengekommen waren. In Gaziantep holte der große Bruder die beiden ab, wie Kapici berichtet. Sie mieteten einen Transporter und besorgten im Großhandel Lebensmittel; unter anderem Wasser, Tee, Sonnenblumenöl, Zucker, Eier, Reis und Nudeln. Außerdem: Hygieneartikel wie Seife und Shampoo, ebenso auch Kohle.

Abgepackt in zahlreichen Säcken wurden die Waren im Inneren des Transporters verstaut, wie ein Video, das Kapici gemacht hat, zeigt. Anschließend ging die Fahrt in die Dörfer. "Wir haben gefragt, wo noch keiner war oder weniger Hilfe", berichtet der 29-Jährige. Stolz zeigt er ein Detail des Transporters: Auf dessen Vorderseite prangt eine deutsche Flagge samt "Hofheim in Unterfranken"-Beschriftung. Das sei ihm wichtig gewesen. "Dass die Menschen wissen, von wo die Hilfe kommt." Und nicht nur von ihm, sondern von allen.
Nach schwerem Erdbeben: In Gedanken bei der Familie in Adiyaman
Die Spendenbox für die vom Erdbeben betroffenen Menschen in und um Kapicis Heimatstadt Adiyaman steht auch weiterhin im Döner- und Pizza-Haus in Hofheim. Hilfe werde das ganze Jahr über benötigt, schätzt der 29-Jährige. Er selbst lebt seit zehn Jahren in Deutschland. Die Eindrücke aus der Erdbebenregion veranlassen ihn auch zu einem Appell: Jeder hier solle sein Haus überprüfen lassen. "Ein Erdbeben ist kein Spaß."

Seine Familie in der Türkei lebe derzeit in einem Zelt, berichtet Kapici weiter. Seine Schwester habe wegen eines Containers angefragt. Er hofft, dass er seine Mutter und seine Schwester durch die angekündigten Visa-Erleichterungen für Betroffene des Erdbebens für drei Monate zu sich holen kann. Bis dahin wäre es in der Türkei ein bisschen wärmer und vielleicht auch der Container da, überlegt er und erklärt: "Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Wir denken an unsere Familie und können nicht so gut schlafen."