Ihren Wohnsitz hatte Litta bei Ellen Damm im Hause Hans Sahlender in der Bamberger Straße. Doch hier befand sich nur ein Wohnraum, der mit anderen Mädchen genutzt werden musste. Littas Schlafstätte befand sich indes beim Landwirt Hans Kremer (heute Jellen) in der Hauptstraße.
Das Filmfabrikanten-Ehepaar Paul und Ellen Damm war bereits im Februar 1944 von Berlin nach Zeil verzogen und hat dieses Mädchen in seinem Labor beschäftigt. Die von der Berliner Friedrichsstraße nach Zeil übersiedelte "Universal-Film-Kopieranstalt" war vom Präsidenten der Reichsfilmkammer höchstpersönlich als kriegswichtiger Filmbearbeitungsbetrieb eingestuft worden. Wegen des heranrückenden Krieges musste sie ihre Fertigung "mit tunlichster Beschleunigung" aus Berlin auslagern.
Die Kopieranstalt bearbeitete für die Universum Film AG (Ufa) die Berichte der Wochenschau, die in den Kinos im Vorprogramm gezeigt wurden. So manche Durchhalte-Wochenschauberichte, die im letzten Kriegsjahr in deutschen Kinos gezeigt wurden, dürften bereits im behelfsmäßigen "Atelier" in der Nähe des Güterbahnhofes entwickelt und bearbeitet worden sein.
Als Goebbels in seiner berühmten Sportpalastrede in Berlin in demagogischer Manier die Frage stellte: "Wollt ihr den totalen Krieg - totaler als er ist?" stimmte er die hysterische Menge fanatisch auf noch härteren Einsatz ein. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass sich nun auch junge Mädchen zum Dienst in kriegswichtige Betriebe verpflichten mussten, zu denen auch der Betrieb der Damms zählte.
Das junge und prominente Mädchen Carmen Litta Wilke, Tochter der weltbekannten Sängerin mit dem Künstlernamen Lale Andersen (1905-1972), war seit dem gemeinsamen Besuch eines Internates in Baden-Baden mit der Damm-Tochter Brigitte befreundet. Es ist anzunehmen, dass Mama Andersen erleichtert war, ihr Töchterchen in der relativ sicheren Provinz in Zeil zu wissen und nicht in Berlin.
Littas Vater, Paul Ernst Wilke, war ein bekannter Landschaftsmaler aus Bremerhaven, den die Frauen anhimmelten. Statt mit ihm in Bremerhaven ein beschauliches Leben in Mitten ihrer drei Kinder zu führen, zog die Künstlerin es vor, nach Berlin zu gehen, um dort Schauspielunterricht zu nehmen. An dem kleinen Stadttheater in Bremerhaven, sah sie keine Chance, Karriere zu machen. Von ihrem Mann trennte sie sich schon 1931. Ihre Tochter Litta gestand später einer Historikerin, die sich mit dem "ersten deutschen Weltstar" beschäftigte, dass sie die Entscheidung der Mutter, ihre Karriereabsichten über die Kinder zu stellen, im Nachhinein verstehe und toleriere. Nach dem Ende ihrer Ehe brachte Lale Andersen ihre zwei Söhne nach Berlin.
"Ich hatte eine herrliche Kindheit"
Lale Andersen erhielt 1933 bei einem Kabarett in Zürich ihr erstes Engagement. Töchterchen Litta wuchs dort bei der ältesten Schwester der Künstlerin auf. Dem Kind hatte man erzählt, Tante Thekla wäre ihre Mutter. 1939 lebte Lale Andersen wieder in Berlin und sie hatte Sehnsucht nach dem Töchterchen Litta. Kurz entschlossen reiste sie in die Schweiz. Sie traf ein strahlendes und gescheites Mädchen an, schreibt sie in ihr Tagebuch. Rückblickend bekennt Litta, dass sie diese Schwindelei nicht weiter gestört habe. "Ich hatte eine herrliche Kindheit." Die Kinder akzeptierten das Leben für die Karriere, und dass sie ihre Mutter zumeist nur in den Ferien sahen.
Möglicherweise war es das einstige Ufa-Direktionsmitglied und späterer Schmachtenberger Schlossherr Jobst von Zanthier, welcher der Filmkopieranstalt Damm zu einer Betriebsstätte in Zeil verhalf. Als die Reichsfilmkammer in Berlin dringend ein geeignetes Objekt suchte, konnte Jobst von Zanthier wohl ein geeignetes Gebäude der Steinmetzfirma Weinig in Zeil anbieten.
Zufällig kannte der ostpreußische Baron auch die ehrgeizige Frau Andersen aus der Berliner Künstlerszene aus seiner Zeit als Besetzungs- chef der Ufa. In seiner Biografie "Sie machten uns glücklich", die 1967 erschien, schildert der erste Nachkriegslandrat des Kreises Haßfurt auch seine Begegnung mit Lale Andersen. Danach kam sie in Berlin noch vor Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 zu ihm als junge Kabarettsängerin. "Sie war gar nicht hübsch, hatte aber ein interessantes Gesicht und war ein netter aufgeschlossener Mensch," lautete sein Kommentar.
Jobst von Zanthier wusste keinen Rat, wie und wo er die junge Frau unterbringen sollte. Er riet ihr, erst mal mit einer guten Nummer am Kabarett Erfolg zu haben. Es sei aber nicht leicht, etwas Geeignetes geschrieben und komponiert zu bekommen, solange man nicht berühmt ist, gab er zu bedenken.
Lale Andersen, so Zanthiers Eindruck, war zu diesem Zeitpunkt dennoch guten Mutes. "Ich habe eine Nummer", sagte sie sichtlich erfreut dem Baron. "Allerdings ist sie noch nicht so, wie ich es möchte. Aber ich glaube daran." Auf die bohrenden Fragen Zanthiers, was es denn sei, machte sie ihm eine interessante Eröffnung: "Da wir doch schon wieder mit Soldaten und womöglich mit Krieg anfangen, ist es was für Soldaten und ihre Sehnsüchte. Das scheint mir doch jetzt das Naheliegende. Vielleicht macht es mich doch berühmt. Sie müssen es hören, wenn es soweit ist."
Nun überschlugen sich die Ereignisse. Jobst von Zanthier, der von den Propagandafilmen die Nase voll und die Vorverkaufsverträge für das Schmachtenberger Schloss bereits in der Tasche hatte, hörte "Lili Marleen" gleich darauf im Radio. Zum Vorsingen bei ihm war Lale Andersen erst gar nicht mehr gekommen. Vier Wochen nachdem das Lied in einem Tonstudio in Berlin aufgenommen wurde, brach der Zweite Weltkrieg aus.
Nazi-Propagandaminister Goebbels vermisste in diesem Lied die Endsieg-Stimmung und hielt es für Wehrkraft zersetzend. Hitlers Propagandachef konnte jedoch "Lili Marleen" nicht mehr aus dem Programm verbannen. Weil sie mit jüdischen Emigranten brieflichen Kontakt pflegte und überdies den zudringlichen Vizepräsidenten der Reichskulturkammer geohrfeigt haben soll, verhängten die Nazis über Andersen ein achtmonatiges Auftrittsverbot. Dieses Lied eroberte sich trotzdem die Herzen der Landser in der ganzen Welt, zumal diese eingängige Melodie seit 1941 jeden Abend vom deutschen Soldatensender in Belgrad auf Wunsch Feldmarschall Rommels zum Sendeschluss gespielt wurde.
Jobst von Zanthier wusste auch Interessantes über den Autor des Liedes, der während des Ersten Weltkriegs als Landser die Verse vor einer Kaserne in Hamburg in sein Notizbuch gekritzelt hatte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges soll General Eisenhower eine Division in Tirol besucht haben. Dorthin in die Berge hatte sich der Dichter Hans Leip zurückgezogen. Der spätere US-Präsident wollte den Mann dieses legendären Liedes sehen und sprechen. Obwohl es erst früh am Abend war, machten ihn die Offiziere darauf aufmerksam, dass Leip sich schon die Decke über die Ohren gezogen habe. Auf die Frage Eisenhowers "Warum?" antwortete sein Offizier: "Um nicht Abend für Abend sein Lied im Radio hören zu müssen."
Die Weggabe ihrer Kinder muss bei Lale Andersen Gewissensbisse verursacht haben. In ihrem Tagebuch machte sich die junge ehrgeizige Künstlerin darüber Gedanken. Einmal schrieb sie, dass sie die Kinder gerne zu sich holen würde, das Geld aber nicht reiche. Das Lied aller Soldaten sollte ihr den ersehnten Erfolg bringen.
Großer Fliegerangriff auf Zeil
Beim großen Fliegerangriff auf Zeil am 10. April 1945 fielen auch zahlreiche Brandbomben in die Scheunen der Entenweidgasse und entfachten dort ein furchtbares Feuerinferno. Betroffen waren auch die landwirtschaftlichen Gebäude der Familie Kremer. Während die Männer zur Brandbekämpfung eilten, flohen die Frauen und Kinder in den Kremer'schen Luftschutzkeller. Mit dabei waren auch die Mädchen aus der ausgelagerten Film-Kopieranstalt. Die aus Berlin zugezogenen Filmlaborantinnen und Filmkleberinnen erboten sich, zur Besänftigung der Angst ein paar Lieder zu singen.
Zu diesen Damen gehörte auch die Tochter von Lale Andersen. Doch Hans Kremer forderte die Großstädterinnen harsch auf, lieber zu beten, was aber offenbar nicht ihre Stärke war. Nur die Einheimischen im Keller verstanden sich darauf, holten die mitgebrachten Rosenkränze heraus und schickten ihre Fürbitten und Gebete zum feuerroten Himmel über Zeil. Das ist Litta Magnus heute noch in Erinnerung, was sie aus Kanada telefonisch lebhaft bestätigte: "Die wollten gar nicht mit dem Beten aufhören".
Nach dem Einmarsch der Amerikaner arbeitete Litta noch einige Monate bei der Firma Damm, die jetzt für die amerikanische Armee Fotoarbeiten entwickelte und fertigte. Litta erledigte mit der Firmenchefin Damm in einem Raum am Marktplatz (heute Zahnarzt Dr. Hartwig) auch die Büroarbeiten.
Die Erfahrungen, welche die Andersen-Tochter in diesem Zeiler Film- und Fotoatelier machte, dürften dazu geführt haben, dass Litta später dieses Metier zum Beruf erkor. Am 17. Juli 1945, meldete sich Litta wieder nach Bad Nauheim, von wo sie sich vor neun Monaten nach Zeil abgemeldet hatte. Im Tagebuch ihrer Mutter heißt es ein paar Wochen später, Litta scheint es einigermaßen gut zu gehen. Auf eigene Faust ist sie ins Allgäu gereist, wo sie zunächst bei Lales Schwester bleiben will. "Wann sich die ganze Familie wieder sehen wird, steht in den Sternen."
Litta könnte noch mitbekommen haben, wie Jobst von Zanthier, der ihre Mutter fördern wollte, von den Amerikanern in Haßfurt als Landrat eingesetzt wurde. 1949 heiratete sie einen englischen Journalisten, mit dem sie 1952 nach Kanada emigrierte, wo Litta als Bildjournalistin arbeitete.
Lale Andersen gelang später noch einige weitere große Hits wie "Blaue Nacht am Hafen"(1952), und "Ein Schiff wird kommen" (1959). Doch "Lilli Marleen" brachte ihr den Weltruhm ein. Mit Recht zählte die angesehene "Londoner Times" sie noch zu Lebzeiten 1969 zu den bekanntesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. 1972 starb sie bei einem Aufenthalt in Wien. Wunschgemäß ließen die Kinder sie im Dünenfriedhof auf der Insel Langeoog beerdigen, die lange Zeit ihr Refugium war. Bei ihrer Beerdigung spielte ein Organist ganz leise "Lili Marleen", obwohl sie das in einem Testament ausdrücklich verboten hatte.
Tochter Litta kehrte nach 20 Jahren aus Kanada zurück nach Deutschland. Sie entdeckte die Tagebücher ihrer Mutter und brachte 1981 das Buch "Lale Andersen, die Lili Marleen" heraus, das noch einmal 1991 im Ullsteinverlag verlegt wurde und noch heute im Handel ist. Unter ihrer Beratung wurde in den 80er Jahren auch ein Film über das Leben und Wirken ihrer Mutter gedreht.
Vor einigen Jahren vermachte Carmen Litta-Magnus, die zeitweise in Deutschland und Kanada lebt, den Nachlass ihrer Mutter dem Kulturamt der Stadt Bremerhaven. Aus diesem Anlass fand ein dreitägiges Festival statt, zu dem die Andersen-Tochter aus Kanada gekommen war. Das Kulturamt der Stadt Bremerhaven enthüllte in Anwesenheit ihrer Tochter anlässlich des 100. Geburtstages der Sängerin an ihrem Geburtshaus eine Gedenktafel. Einige Regionalsender haben vor einigen Tagen den Dokumentarfilm "Die Stimme der Lili Marleen" mit Interviews von Litta Magnus gesendet. Außerdem arbeitet die ARD für diesen Herbst an einer Dokumentation in der Reihe "Legenden", die noch im Herbst ausgestrahlt werden soll.

Die heute 77-jährige Tochter will seit vielen Jahren schon Zeil besuchen und pflegt noch immer den Kontakt mit der Familie Kremer-Jellen. Schließlich hat sie hier das bittere Ende eines Krieges erlebt, in dem ihre Mutter mit dem Soldatenlied "Lili Marleen", eine ungewöhnliche Rolle spielte. Der Komponist des Liedes erhielt nach dem Krieg drei Jahre Berufsverbot. Er hatte auch Schlachtenlieder "Führer befiehl - wir folgen" vertont. Als Beitrag für eine Andersen-Dokumentation verriet er, die Melodie für Lili Marleen habe er in fünf Minuten geschrieben. Für die Soldaten der Bundeswehr gibt es immer noch einen Soldatensender. Radio Andernach sendet auch heute noch jeden Abend um 22 Uhr für die KFOR-Soldaten im Kosovo das Lied "Lili Marleen".