Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo liegen die Wurzeln meiner Familie? Immer mehr Menschen stellen sich solche Fragen. Die Familienforschung erlebt einen nie gekannten Boom. Zahlreiche Foren, Datenbänke und kommerzielle Plattformen sind inzwischen im Internet zu finden, auf denen sich Familienforscher untereinander austauschen und mit Recherche-Ergebnissen weiterhelfen. Und besonders die Archive der katholischen und evangelischen Kirche werden regelrecht überrannt. Dies sorgt für Probleme.
„Wir erleben einen Ansturm von familiengeschichtlichen Anfragen aus den USA, ja aus der ganzen Welt.“ Über die Situation im neu gebauten Diözesanarchiv in Würzburg berichtete Prof. Dr. Johannes Merz, der Leiter des Archivs und der Bibliothek des Bistums, auf einer gemeinsamen Fachtagung der Bezirksheimatpfleger aus Unter- und Oberfranken, des Colloquium Historicum Wirsbergense und des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege im Tagungszentrum Schüttbau in Rügheim.
Diese Anfragen aus Übersee, von denen pro Tag meist gleich mehrere eingehen, müssten von den Mitarbeitern des Diözesanarchivs zeitaufwendig abgearbeitet werden. Hinzu kommen tagtäglich die Besucher im Lesesaal des Archivs, die mit speziellen Recherche-Wünschen nach Würzburg kommen, und denen die wissenschaftlich ausgebildeten Mitarbeiter der Bibliothek bei der Suche des entsprechenden Archivmaterials oder aber auch bei Fachfragen hilfreich zur Seite stehen sollen.
„70 Prozent der Nutzer des Archivs sind Familienforscher“, sagt Merz. All dies binde Personal – und es kostet. Kein Wunder also, dass man seitens Diözesanarchivs sich Gedanken gemacht hat, der Flut von Anfragen Herr zu werden. Und was liegt da in unserer heutigen Zeit näher, als die gesammelten historischen Daten im Internet zugänglich zu machen, für alle und weltweit. Doch dies wäre zu kurz gesprungen.
In der Tat sind insbesondere die alten Matrikelbücher aus den Kirchengemeinden unabdingbare Quellen für jemanden, der seine Familiengeschichte erforschen will. Denn erst ab dem Jahr 1876 kennt man die standesamtliche Eintragung von Geburt, Heirat oder Tod. In den Jahrhunderten zuvor war die Kirche die einzige Institution, die personenbezogene Daten niederschrieb.
Im frühen 16. Jahrhundert begann man – zuerst in den Orten, in denen die Reformationsgedanken des Augustinermönchs Martin Luther Fuß gefasst hatten – so genannte Matrikelbücher zu führen. In der Stadt Hammelburg wurde schon 1517 ein derartiges Buch angelegt. Insbesondere unter Fürstbischof Julius Echter und seinen gegenreformatorischen Bestrebungen zogen ab 1563 dann auch katholisch gebliebene Pfarreien nach.
Oftmals blieben diese Listen durch Kriegswirren oder Schlamperei aber noch unvollständig. Erst Mitte des 17. Jahrhunderts nach dem Ende des 30-jährigen Kriegs setzte die Phase der Vollständigkeit und Zuverlässigkeit bei den Matrikelbüchern ein.
Meist war es der Pfarrherr, gelegentlich auch ein Kaplan oder Vikar, der in dicke Bücher fortlaufend den Termin der Taufe, den Namen des Täuflings und die Namen der Eltern und des Taufpaten eintrug. Und weil früher angesichts der hohen Kindersterblichkeit zumeist gleich am Tag der Geburt auch schon getauft wurde, kann der Familienforscher heutzutage anhand der Tauf-Matrikel den Geburtstag seiner Vorfahren feststellen. Neben Taufmatrikel haben sich auch Ehe- und Sterbematrikel erhalten, das Leben der Vorfahren wird so nachvollziehbar.
In den 1990-er Jahren erwachte allmählich der Trend, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu befassen. Die Pfarrämter, wo die wertvollen Matrikelbücher meist im hintersten Bücherschrank gelagert waren, erlebten einen Ansturm. Die Nutzung der lokalen Pfarrarchive sei regelrecht „explodiert“, berichtet Johannes Merz. Mit unliebsamen Begleiterscheinungen. Die kostbaren, fast vierhundert Jahre alten Bände seien von Laien intensiv durchgearbeitet worden, was dem Papier und der Bindung nicht gut getan habe. Manche Bücher wurden regelrecht zerfleddert und in einigen Fällen habe man sogar Verluste zu beklagen gehabt.
Bischof Paul-Werner Scheele war es, der im Jahr 2000 angesichts dieser drohenden Zerstörung wertvollen Kulturguts die Anordnung traf, alle Matrikelbücher und andere erhaltenswerte Bände von den lokalen Pfarrämtern zentral nach Würzburg zu holen. Die Bücher blieben im Eigentum der jeweiligen Pfarrei, dokumentiert durch entsprechende Leihscheine, wurden nun aber im Diözesanarchiv einer Sicherheitsverfilmung unterzogen und dann unter klimatechnisch idealen Bedingungen verwahrt. „Insgesamt 11500 Bücher wurden eingezogen“, sagte Merz. Rund 6500 Exemplare, meist die verschiedenen Matrikelbücher, wurden Seite für Seite fotografiert und auf 3100 Mikrofiche gebannt.
Familienforscher mussten bei ihrer Recherche nun also nicht mehr in den alten Büchern blättern, sondern bekamen von den Archiv-Mitarbeitern nur noch den entsprechenden Mikrofiche vorgelegt und konnten dann im Lesegerät nach den Einträgen suchen.
Nun ist das Diözesanarchiv einen wichtigen organisatorischen Schritt weitergegangen: Die Mikrofiche wurden digitalisiert. In einem speziellen Lesesaal-Programm kann jetzt der Familienforscher an einem der Computer-Arbeitsplätze über die Eingabe von verschiedenen Such-Parametern zielgerichtet sich den entsprechenden Mikrofiche aus der Datenbank heraussuchen und darin lesen. Möglich ist es jetzt sogar, bestimmte Stellen des digitalen Textes mit dem Cursor zu markieren und sich dann auszudrucken.
Dieses neue Lesesaal-Programm sei quasi der „Testlauf“ für eine Freischaltung im World-Wide-Web, betonte Merz bei der Tagung der Heimatpfleger. Man wolle im „Stufenprinzip“ vorgehen: digitale Bereitstellung der Fiche im Lesesaal mit Probebetrieb, gründliche Auswertung des Probebetriebs und dann vielleicht die Bereitstellung der Daten online.
Doch es gibt noch mehrere Hemmschuhe für die völlige Freigabe im Internet. Zum einen sei die Online-Zurverfügungstellung der Matrikel durch kirchenrechtliche Vorschriften nicht gedeckt, erklärte Merz. Experten seien hier aber schon mit einer Überarbeitung der entsprechenden Gesetze beschäftigt, bis Mitte 2012 solle eine Lösung vorliegen. Noch ungelöst sind aber auch die wichtigen und grundlegenden Fragen des Urheberrechts (das noch bei den Pfarreien liegt), der Zugangsbedingungen, der wissenschaftlichen Beratung der Online-Nutzer und einer eventuellen wirtschaftlichen Vermarktung des Angebots.
Es dürfte sich also noch hinziehen, bis die Matrikel – wenn überhaupt – irgendwann einmal frei im Internet einsehbar sind. Wann könnte es soweit sein? Johannes Merz wählte bewusst einen dehnbaren Begriff: „mittelfristig“.
Prof. Dr. Johannes Merz
Der aus Hammelburg stammende Historiker übernahm am 1. April 2003 die Leitung der neu errichteten Abteilung Schriftgutverwaltung der Diözese Würzburg. Ihr zugeordnet sind das Diözesanarchiv, die Diözesanbibliothek und die Registratur des Bischöflichen Ordinariats.
Merz wurde 1964 in Hammelburg geboren. Nach dem Abitur am Frobenius-Gymnasium in Hammelburg studierte er von 1983 bis 1989 Geschichte, Theologie, Philosophie und Germanistik in Würzburg, Marburg und Padua. In dieser Zeit arbeitete er studienbegleitend als Hilfskraft im Diözesanarchiv Würzburg. Anschließend war er bis 1991 Graduiertenstipendiat an der Universität Würzburg. Seine Promotion schloss Merz 1992 in den Fächern Neuere und Neueste Geschichte sowie Mittelalterliche Geschichte und Kirchengeschichte ab. Als Wissenschaftlicher Assistent wirkte er von 1992 bis 1995 am Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte der Universität München. Die Habilitation folgte 1999.
Privatdozent für Mittlere und Neuere Geschichte ist Merz seit 2000 an der Universität München. In den vergangenen Jahren nahm er Lehrstuhlvertretungen in Passau, Saarbrücken und München wahr. Seit 2006 ist er außerplanmäßiger Professor an der Universität München.