Die Fotos sind das Einzige, was ihm geblieben ist. Sie zeigen seine beiden Kinder: Konstantin mit einer Riesenschlange um den Hals und Diana in einem weißen Kleid vor ihrem Bettchen. Die Bilder erzählen von seiner Frau Svetlana, die auf einem Stuhl im Urlaub an einer Theke lehnt und auf ihn wartet. Es sind Aufnahmen aus einem früheren Leben, in dem das Glück es mit Vitali Kalojew einen Augenblick gut meinte. In einer Klarsichthülle begleiteten die Fotos den kaum über 1,70 Meter großen Mann auch in seiner dunkelsten Zeit: im Saal des Zürcher Obergerichts, wo das Urteil am 26. Oktober 2005 über ihn gesprochen wurde.
Sein Blick suchte damals an den Bildern einen Halt, als er schilderte, wie ihm der Fluglotse Peter Nielsen diese auf der Terrasse seines Hauses in Kloten im Affekt aus der Hand schlug. „Ich hatte das Gefühl, dass meine Kinder aus ihren Särgen geworfen werden und dass sie neue Schmerzen empfunden haben“, gab der Russe damals vor Gericht zu Protokoll. Die Bilder führte er auch anschließend mit sich ins Gefängnis, das er zwei Jahre später verließ, um wieder in die Heimat zu fliegen, nach Wladikafkas, wo er wie ein Held gefeiert und zum stellvertretenden Bauminister Nordossetiens ernannt wurde.
Vitali Kalojew steht wie kein anderer Hinterbliebener für die menschliche Tragödie der Unglücksnacht, in der 71 Menschen – darunter viele Kinder auf einem Ferienflug nach Barcelona – ums Leben kamen. Über 1000 Polizisten und Helfer suchten nach dem Flugzeugunglück die Unglücksstelle bei Überlingen ab. Wegen Fehlern bei der Flugsicherung Skyguide in Zürich waren zwei Flugzeuge gegen 23.35 Uhr rund elf Kilometer über Überlingen zusammengestoßen. Ein Unglück, das aus dem Opfer Vitali Kalojew einen Täter machte.
Maja Heidenreich hatte ihn am Tag nach dem Unglück vom 1. Juli 2002 bei sich zu Hause in Heiligenberg aufgenommen. „Ich wollte nicht, dass er in einem anonymen Hotel unterkommt“, erinnert sich die russisch sprechende Projektleiterin an der Universität Stuttgart heute. Kalojew war damals aus Barcelona herbeigeeilt, wo er vergebens am Flughafen auf seine Familie gewartet hatte. „Vitali stand damals völlig unter Schock, er war fassungslos, tief verzweifelt. Ein Mensch, der seine Familie verloren hatte.“ Gemeinsam mit einem Betreuer suchten sie im Trümmerfeld nach seinen Liebsten. „Gefunden wurden sie Gott sei Dank von anderen“, sagt Maja Heidenreich. Vitali Kalojew kaufte Kleidung, in der er die Leichname in Särge betten ließ, und begleitete den Transport in die ferne Heimat.
Maja Heidenreich hat Vitali Kalojew noch mehrfach getroffen. Sie erinnert sich gut an den zurückhaltenden Bauingenieur, dessen Bart bei jedem Besuch in Überlingen länger wurde. Der Ort, an dem seine kleine Tochter als eines der ersten Opfer damals gefunden wurde, blieb für ihn seine ganz persönliche Gedenkstätte. Ob er am zehnten Jahrestag der Katastrophe wieder nach Überlingen kommen kann, ist noch offen. Wie es heißt, hofft Vitali Kalojew noch auf ein Visum für Deutschland. Wenn es aber klappen sollte, werde er gewiss diesen Ort wieder aufsuchen und nach einem alten ossetischen Brauch ein Glas Cognac über die Stelle gießen und ein zweites Glas trinken, ist sich Maja Heidenreich sicher.
Die Erde am Fundort ist für den orthodoxen Christen, der mit dem Unglück auch seinen Glauben verlor, heilig geblieben. „Damals nahm Vitali eine kleine Tüte Erde mit nach Wladikafkas“, erinnert sich die Dolmetscherin. Die Frau, die mit Kalojew oft über das Unglück und seine Ursachen sprach, denkt noch immer schmerzlich daran, dass von Schweizer Seite erst viel zu spät eine Entschuldigung kam. Als die Flugsicherung Skyguide im Sommer 2004 die Verantwortung für die vielen Fehler übernahm, die zum Zusammenstoß der beiden Flugzeuge geführt hatten, saß Kalojew bereits wegen Selbstmordgefahr in einer psychiatrischen Haftanstalt. Mit zahlreichen Stichen hatte er den Fluglotsen Peter Nielsen zuvor getötet und dessen Frau und seinen beiden Kindern den Mann und Vater genommen.
Maja Heidenreich ist die Betroffenheit über die Ereignisse anzumerken. Vitali Kalojew habe im fernen Kaukasus keinen Kontakt zu den Hinterbliebenen der anderen 70 Opfer gehabt, erinnert sie sich. „Keiner erkundigte sich nach den Gräbern, schon gar nicht Skyguide.“ Den Schweizern um den damaligen Skyguide-Chef Alain Rossier blieben die kulturellen Besonderheiten eines Landes verschlossen, das Psychotherapie nur als westliches Fremdwort kennt. „Seiner Kultur entsprechend hätte Vitali eine Entschuldigung gebraucht. Wenn jemand ein Unrecht tut, ohne es danach einzugestehen, bleibt etwas offen“, stellt die Russlandkennerin fest. Doch Skyguide blieb diesen Schritt schuldig, aus Angst vor möglichen finanziellen Forderungen.