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LOHR: Als die Weihnachtsgans das Buch fraß

LOHR

Als die Weihnachtsgans das Buch fraß

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    Hunger leiden musste man nicht auf dem Gutshof in Lohr, selbst in der Kriegszeit nicht. Das undatierte Bild zeigt links Amanda Zattlers Vater, den Verwalter.
    Hunger leiden musste man nicht auf dem Gutshof in Lohr, selbst in der Kriegszeit nicht. Das undatierte Bild zeigt links Amanda Zattlers Vater, den Verwalter. Foto: Repro: Gisela Rauch

    In der Kriegs- und Nachkriegszeit gab es den Weihnachtsbraten nicht fertig zu kaufen im Lebensmittelladen nebenan. Wer einen Weihnachtsbraten wollte, der musste ihn sich aufziehen. So berichten es drei alte Frauen, die alle drei ihre Jugend in Lohr (Kreis Main-Spessart) verbracht haben.

    Jugend auf dem Gutshof in Lohr

    „Wir hatten immer Gans. Und dazu gab es Semmelknödel und Kraut. Das war unser Weihnachtsessen“, erzählt Amanda Zattler, heute 90 Jahre alt. Im Gegensatz zu manch anderen Lohrern, die in der kargen Kriegs- und Nachkriegszeit von einem fetten Weihnachtsbraten nur träumen konnten, brauchten die Zattlers nicht zu hungern. Amanda Zattlers Vater war nämlich der Verwalter des „Gutshofs“ in Lohr, und ihre Mutter konnte auf dem Gut Hasen, Zicklein, Schweine, Enten und Hühner halten. Und eben auch Gänse. Als junges Mädchen, berichtet Amanda Zattler, habe sie sich viele Monate um die Tiere kümmern müssen, die dereinst als Weihnachtsgänse enden würden. „Ja, wer einen Weihnachtsbraten haben wollte, der musste ihn sich damals aufziehen“, sagt sie.

    Das Mädchen, das mit den Gänsen lief

    Die Mutter habe im Mai zehn Gänseküken gekauft, in Duttenbrunn oder manchmal in Steinfeld. Von den zehn Gänsen waren neun für Bekannte vorab reserviert und die zehnte Gans für die Familie. Ab dem Moment, wo die Gänse auf den Gutshof kamen, wurden sie Amanda anvertraut. Die alte Frau erinnert sich noch gut daran, wie sie als junges Mädchen im Sommer auf die abgeernteten Felder in der Nähe wanderte, die zehn Gänse ihr nach. „Ich musste mit denen laufen, immer laufen. Wenn ich stehen geblieben bin, sind die auch stehengeblieben, wollten nicht mehr fressen. Also lief ich.“

    Als die Gans das Lieblingsbuch fraß

    Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte die junge Amanda öfter ein Buch dabei und las darin. Manchmal war es das Französischbuch für die Schule, mal war es ein „Renner von Charlotte Bronte“ mit dem Titel „Jane Eyre, die Waise von Lowood“. Wie der Roman ausging, hat Amanda Zattler lange nicht erfahren, weil die Gänse in einem unbeobachteten Moment die letzten Blätter des Buchs einfach auffraßen.

    Als es aufs Fest zuging, fing Amandas Mutter an, die Gänse mit Mehl zu mästen. Zwei Tage vorm Fest schlachtete sie eines der Tiere, die ihrer Tochter monatelang gefolgt waren. „Für mich war das schlimm, mir sind die Gänse ja ans Herz gewachsen“, sagt Zattler. Aber es half ja nichts, das Essen wurde ja gebraucht. „Von der Gans ist nichts weggeworfen worden, alles ist verwendet worden“, erinnert sich die alte Frau. „.Das erste was rausgekommen ist, war die Galle. Dann die Leber, die wurde ganz vorsichtig genommen. Dann wurden die Innereien hingelegt, die Därme aufbewahrt.“ Traditionell seien in ihrer Familie die Innereien am Tag vor Heiligabend gegessen worden. Am Heiligabend selbst gab es bei den Zattlers nie Fleisch, sondern immer Kartoffelsalat und Eier, der Heiligabend galt als Abstinenztag. Die Gans kam im Gutshof, in dem die vierköpfige Verwalterfamilie mit zwei, drei Knechten lebte, erst am 1. Feiertag auf den Tisch.

    Im Forsthof war der Hunger oft zu Gast

    „Ja, die Zattlers auf dem Gutshof. Die hatten zu essen“, erinnert sich die 81jährige Würzburgerin Maria Kern (Name geändert). Sie lebte in ihrer Jugend auf dem Forsthof in Lohr, nicht weit vom Gutshof entfernt. In Maria Kerns Familie – die Mutter, der Vater, fünf Brüder – waren Lebensmittel rar. Die Mutter war mit ihren Kindern im „Hungerwinter“ 1944/45 vor den anrückenden Russen aus Oberschlesien nach Lohr geflohen; der Vater kam später nach und es dauerte, bis er eine Arbeit fand. Keine Arbeit bedeutete wenig Geld und wenig Geld bedeutete: Hunger. Noch heute erinnert sich die 81jährige, wie der kleinste Bruder die Mutter an den Abenden anbettelte: „Hast du noch einen Kanten Brot?“

    Wenn sie heute ans Essen auf dem Forsthof zurückdenkt, dann sieht Maria Kern immer nur Kartoffeln vor sich, das Standardessen der armen Leute: Stampfkartoffeln. Pellkartoffeln. Kartoffelpuffer. Doch auch bei der Familie Kern gab es einen Weihnachtsbraten – und auch er war selbst aufgezogen. „Die Brüder hielten in einem Stall vor dem Haus ein Kaninchen. Das fütterten sie monatelang und an Weihnachten wurde es geschlachtet.

    “ Als Nachtisch an Weihnachten habe die Mutter es fertiggebracht, selbstgemachte schlesische Mohnklöße aufzutischen, erinnert sich Maria Kern. Irgendwoher habe ihre Mutter Mohnkapseln bekommen, die Mohnpflänzchen habe sie in einem Gärtchen der Forstmeisterei gehegt und gepflegt, um an Weihnachten die sehr sättigende Süßspeise aus Mohn, Mandeln, Haselnüssen, Vanillezucker, Milch und Brötchen zubereiten zu können.

    Der Tag, an dem der Hahn ohne Kopf loslief

    Noch eine zweite Familie war ab 1945 in der Forstmeisterei in Lohr untergebracht. „Wir sind ja aus Würzburg, aber nachdem wir ausgebombt wurden, hat die Familie erst in der Rhön und später in Lohr gelebt“, sagt die heute 81jährige Christel Keller. Sie erinnert sich, dass ihre Mutter bei den Bauern aus der Gegend ein bisschen ausgeholfen hat, um an Butter und Milch zu kommen. Eier allerdings habe man selbst gehabt, die Mutter habe auf dem Forsthof in Lohr Hennen gehalten. Fürs Weihnachtsessen aber hätten die Hennen nicht getaugt – sie landeten, wenn sie keine Eier mehr legen konnten, höchstens im Suppentopf.

    „Nein, an Weihnachten gab es Hahn“, erzählt Christel Keller. Selbstgeschlachtet natürlich, wie bei den Zattlers und den Kerns auch. Niemals, sagt Keller, werde sie jenes Weihnachtsfest vergessen, an dem die Schlachtung des Hahns daneben ging: „Da hat jemand das Tier zu früh losgelassen, nachdem ihm der Kopf abgeschlagen worden war“. Und dann sei der Hahn durch den ganzen Forsthof gerannt – ohne Kopf. „Alle Kinder waren blutbespritzt“, erzählt sie. Doch selbstverständlich landete auch dieser Hahn auf dem Weihnachtstisch, zusammen mit der roten Beete, die die Mutter angebaut, geerntet und eingelagert hatte. Als Nachtisch habe es, vermutet Keller, Kompott gegeben; den ganzen Sommer über habe die Mutter Früchte eingekocht.

    Schlesische Mohnkließla Zutaten für 6 Portionen: 150 g gemahlener, frischer Mohn 1 Liter frische Milch 3 altbackene Brötchen 3 EL Honig 70 g gemahlene Haselnüsse 100 g Zucker 50 g gemahlene Mandeln 50 g Rosinen 1 Pck. Vanillezucker So wird's gemacht: Die Brötchen in Scheiben schneiden und ein Drittel des Zuckers darüber streuen. Mit einem halben Liter Milch übergießen und einweichen lassen. Restmilch aufkochen, Mohn, Zucker, Rosinen, Mandeln, Nüsse, Vanillinzucker und Honig dazugeben; alles etwa 10 Minuten kochen lassen und dabei immer wieder gut umrühren. Die eingeweichte Brötchenmasse abwechselnd mit der Milch-Mohnmasse in einer Schüssel schichten; als oberste Schicht sollte der Mohn kommen. (Arbeitszeit circa 40 Minuten.) Über Nacht kaltstellen.

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