Der Weg in die Unterwelt ist holprig. Keuchend schleppen die Taucher ihre Ausrüstung über einen steinigen Pfad. Zwischen 20 und 30 Kilo tragen die in Neopren Gewandeten durch die mexikanische Mittagshitze: Pressluftflaschen, Atemregler, Blei, mehrere Lampen. Es soll nach unten gehen, in den Temple of Doom, die Kathedrale der Verdammten. Es ist eine jener Höhlen der mexikanischen Halbinsel Yucatán, die bei Freizeittauchern für Begeisterung sorgen: Das Wasser ist glasklar, die unterirdischen Felsformationen wirken im Schein der Taucherlampen surreal. Die taucherische Schwerelosigkeit fühlt sich dort, nicht einmal zwölf Meter unter der Erde, ganz anders an als im Meer. In der Dunkelheit der Höhle, zwischen Stalagmiten und Stalaktiten, kommt es einem vor, als schwebe man durchs All.
Die Cenoten, Einsturzkrater zu inzwischen meist überfluteten Karsthöhlen, galten bei den Maya als Eingang zur Unterwelt Xibalba. Für Taucher ist dieses Unterwasseruniversum ein absolutes Faszinosum. Die Anziehungskraft ist groß; immer wieder verlieren Wagemutige ihr Leben, weil sie sämtliche Verbote missachten und in Bereiche vordringen, die nur ausgebildeten Höhlentauchern vorbehalten sind. Weil sie den Rückweg nicht mehr finden, panisch werden oder ihnen die Luft ausgeht.
Robert „Robbie“ Schmittner ist einer von jenen, die die unterirdischen gefluteten Gänge bestens kennen. Der 40-Jährige betreibt eine Tauchschule in Tulum; wann immer es geht, taucht er ab. Schmittner ist gelernter Forstwirt aus Rothenbuch im Spessart. Dort lebt auch noch der Großteil seiner Familie; Schmittner ist immer mal wieder in der Heimat zu Besuch. Sein Zuhause aber liegt inzwischen deutlich weiter westlich: 1998 reiste Schmittner „nach sieben Jahren als Forstwirt im Wald“ für einen Höhlentauchkurs nach Yucatán. Und blieb. Inzwischen betreibt er dort sein eigenes Hotel samt Tauchschule – benannt nach der Unterwelt der Maya, die ihn selbst nicht loslässt.
Schmittner, dessen Expertenwissen für den 2013 veröffentlichten Kino-Dokumentarfilm „Verborgene Welten – Die Höhlen der Toten“ eines deutschen Forscherteams eingesetzt wurde, gehört zu einer Handvoll von Profi-Tauchern, die große Teile der Höhlensysteme unter der mexikanischen Halbinsel entdeckt haben. „Als ich kam, gab es hier zwischen 300 und 400 Kilometer bekannter Höhle. Mittlerweile sind es 1300 und mehr“, sagt er. Wie viele Kilometer davon er selbst als Erster betaucht und kartografiert hat, hat er nicht gezählt.
„Es sind mehrere Hundert, die genaue Zahl weiß ich aber nicht.“ Daten, die Taucher wie Schmittner bei ihren Entdeckungstouren gewinnen – etwa GPS-Koordinaten oder Meterangaben, die sie mit Hilfe von mitgeführten und unter Wasser befestigten Leinen ermitteln, leiten sie an eine Datenbank der Quintana Roo Speleological Survey weiter. Ziel ist, so viele Höhlenkilometer und -eingänge wie möglich zu finden und zu erfassen – auch, um die süßwassergefüllten Labyrinthe etwa bei Bauvorhaben zu schützen.
Die Bereiche, die nicht zu Höhlentauchern ausgebildete Touristen mit einem Guide erkunden dürfen – maximal 60 Meter von einem Höhleneingang entfernt –, sind verglichen mit denen, in die Schmittner vordringt, ein Kinderspielplatz.
Schmittner zwängt sich unter Wasser durch Engstellen, drückt erst sein Equipment durch und dann sich, immer in der Hoffnung, dass es dahinter weitergeht. Anders als beim Sporttauchen, bei dem aus Sicherheitsgründen im Zweierteam abgetaucht wird, ist Schmittner meist alleine unterwegs. Werde es eng unter Wasser, sei eine zweite Person eher ein Gefahrenfaktor: „Wenn ich in eine Engstelle muss, bin ich nah am Boden und wirbele möglicherweise Sediment auf.
Das gibt es in jeder Höhle, organisches am Anfang, mineralisches in den tieferen Bereichen. Wenn ich mich also irgendwo durchquetschen muss, weil ich sehe oder vermute: Dahinten geht es weiter, dann wird es definitiv absolut null Sicht.“ Ohne etwas sehen zu können, schiebe er sich dann durch die Engstelle – in der Hoffnung, in einen neuen, großen Bereich vorzudringen. „Es kann aber auch ganz anders sein. Ich drücke mich irgendwo durch und hoffe, da geht es weiter. Das macht man beispielsweise, weil häufig mehrere große Höhlen hintereinander liegen und man eine Verbindung zwischen ihnen finden möchte. Oft landet man dabei aber in einer Sackgasse, die hoffentlich groß genug ist, dass man umdrehen kann. Dann ist es leichter, wieder rauszukommen. Dann muss man drehen und blind zurücktauchen, weil man ja vorher das Sediment aufgewirbelt hat.“ Sei ein Wenden nicht möglich, müsse er sich im Sedimenten-Nebel blind rückwärts schieben. Ein zweiter Taucher sei dann nur im Weg.
In solchen Situationen kennt Schmittner, der im Gespräch eine enorme Ruhe ausstrahlt, auch Herzklopfen. Dieses fürchterlich laute Herzklopfen, das im Brustkorb pocht, bis der Kopf zu dröhnen beginnt. Dann panisch zu werden, könnte ihn das Leben kosten. „Beim Höhlentauchen geht es am Ende komplett um die Psyche“, sagt der 40-Jährige. Und ergänzt dann grinsend: „Generell gilt aber: Wo man reinkommt, kommt man auch wieder raus – solange man die Nerven behält.“ Auch er, der Höhlenprofi, der auch schon mal mit einem Allradfahrzeug in den Dschungel aufbricht, weil er bei Google Earth eine Stelle gesehen hat, die grüner aussieht als der Rest und er deshalb dort eine bisher nicht bekannte Cenote vermutet, beendet auch nach fast zwei Jahrzehnten Erfahrung Tauchgänge vorzeitig, wenn er sich nicht mehr wohl fühlt: „Ich bin oft in der Situation, dass ich einen Tauchgang abbreche, weil die kleine Stimme von innen ruft: ,Es reicht! Es reicht?. Und das ist wichtig zu wissen – und auf sich selbst zu hören.“ Schmittner nennt es nicht Angst, was ihn da in diesen dunklen Momenten überkommt, sondern Vorsicht. Die schätzt er ganz pragmatisch ein: „Wenn sie nicht da wäre, dann wäre ich auch wahrscheinlich mal nicht wieder rausgekommen.
“ Dass es ihn immer wieder in die Unterwelt zieht, begründet Schmittner mit Entdeckungsdrang. „Stell Dir vor, Du könntest morgen auf den Mond. Du gehst irgendwohin, wo noch niemand vor Dir war. Und Du findest dort eine Passage, die gigantisch groß ist, so dass dort ein Flieger durchfliegen könnte. Oder eine Feuerstelle und Menschenknochen aus einer Eiszeit, vielleicht 13 000 Jahre alt. Oder eine Verbindung von einer Höhle zur anderen. Es ist dieses Unbekannte. Man taucht um eine Ecke und findet etwas, das noch niemand vorher gesehen hat. Das ist der Reiz bei dem Ganzen.“ In Yucatán sind rund 3000 Cenoten bekannt, bis zu 10 000 werden dort vermutet.
Während sich die Hobbytaucher schon in der überschaubaren Anzahl der für sie freigegebenen Höhlen zwischen Tulum und Playa del Carmen wie im „Temple of Doom“ wie Entdecker fühlen, obwohl schon Tausende vor ihnen dort unten waren und brav ihrem Guide hinterhergetaucht sind, findet Schmittner immer wieder wirklich Neues. „Wenn es irgendwo eine Straßenbauarbeit gibt, taucht plötzlich eine neue Cenote auf oder ein neuer Einstieg zu einem System, der einen anderen Zugang ermöglicht.
“ Er packt dann sofort sein Equipment aufs Auto, um der Erste zu sein, der in diesem neuen Bereich der Unterwelt untergeht.