Es ist noch dunkel, als sich gegen vier Uhr am Samstagmorgen des 1. Juni die Wallfahrer am Pfarrheim in Sendelbach versammeln. Lohr schläft noch, während sich der Platz zügig mit Menschen füllt, die von hier aus zu Fuß den Kreuzberg in der Rhön erreichen möchten. Für die 65 Pilger bedeutet das, 80 Kilometer in zwei Tagen zu bewältigen. Eine anspruchsvolle Aufgabe.
Der Sendelbacher Pfarrvikar Ignace Matensi erteilt einen Reisesegen an die Gruppe. Jeder Teilnehmer erhält ein Wallfahrtskreuz bevor sich der Zug in Bewegung setzt. Das geschmückte Pilgerkreuz wird vorneweg getragen. Gebete und Gesänge, durch Lautsprecher weithin hörbar, begleiten den Zug, der sofort mit flinker Geschwindigkeit Richtung Gemünden aufbricht.
Zeit für Gespräche
Während der zwölf Stunden pro Tag, die gepilgert werden, sei genügend Zeit für Stille und Ruhe, wird den neuen Teilnehmern mitgeteilt. »Lauft am Ende des Pilgerzuges«, lautet die Empfehlung der erfahrenen Wallfahrer. Dort finde sich mehr Zeit für Ruhe, aber auch für Gespräche und Ablenkung.

Viele der Wallfahrer sind schon lange dabei, die Beweggründe könnten unterschiedlicher nicht sein. Claudia Fey lief früher auch am Ende der Gruppe mit, wo sich die »Quatschrunden« befinden, sagt die Sendelbacherin. Die letzten Jahre ist sie lieber ganz vorne mit dabei. Fey bestreitet ihre 14. Wallfahrt und sieht diese als eine »Auszeit vom Alltag«. Als sie 1985 das erste Mal mitlief, absolvierte sie zum ersten Mal überhaupt eine solche Distanz. »Das war anstrengend«, erinnert sich die 55-Jährige, jedoch auch lustig, da viele ihrer Freunde dabei waren. Mittlerweile sieht sie in ihrer Teilnahme auch ein Stück Verantwortung, dass die Tradition der Wallfahrt bestehen bleibt.

Diese Tradition begann 1983, als sich mehrere Sendelbacher zusammenfanden, um eine gemeinsame Wallfahrt zum Kreuzberg aus der Taufe zu heben. Eine Pilgerroute wurde ausgearbeitet. An der ersten Wallfahrt ein Jahr später nahmen 26 Personen teil. 2019 findet bereits die 36. Kreuzbergwallfahrt statt. Organisiert wird sie seit zehn Jahren vom Sendelbacher Siegbert Kapperer, der den Zug anführt.
Glockengeläut
Entlang der Saale führt die Route durch viele Ortschaften. Diese zu durchqueren, ist eines der besonderen Erlebnisse für die Pilger. Die Glocken in den Kirchtürmen beginnen zu läuten, sobald die Wallfahrer ein Dorf erreichen. Ortsansässige grüßen und wünschen einen guten Marsch. Auch Wanderleute, die den Weg kreuzen, fragen immer wieder neugierig nach dem Ziel. Die Gesänge und Gebete wirken auf die Teilnehmer ein. Zwischen den Gesprächen mit den Pilgern bleibt viel Zeit, um die Spiritualität auf sich wirken zu lassen. Der Gang ist flott, fast schon als meditatives Laufen zu bezeichnen.
Gut versorgt
Beide Tage sind bestens organisiert. Die beiden Versorgungsfahrzeuge fahren parallel zu den Pilgern und reichen an den Raststationen Getränke, Obst und Kuchen. »Wer sich nicht wohlfühlt, kann auch einen Teilabschnitt mitfahren«, erklärt Fahrer Christian Seubert, der diese Aufgabe mit seiner Familie seit 27 Jahren übernimmt. Dieser Service garantiert, dass auch jeder Pilger sein Ziel erreicht. Das Gepäck wird von Seuberts Schwager Siegbert Emrich zur Übernachtungsstation nach Wartmannsroth gefahren.
Pfarrer Josef Zwickel, seine Ministranten und eine Fahnenabordnung begrüßen hier am späten Nachmittag die Gruppe. Nach dem Segen in der Wartmannsrother Kirche werden die Pilger von ihren insgesamt 17 Gastfamilien in Empfang genommen.

Michaela und Paul Reinhart beherbergen seit 21 Jahren Wallfahrer in ihrem Haus. Seit dem Tod von Paul Reinhardts Mutter führen sie diese Tradition fort. Die Begrüßung ist herzlich. Beim Abendessen werden Erfahrungen ausgetauscht. »Jeden Tag eine gut Tat heißt es doch«, sagt Michaela Reinhart, »und einmal im Jahr sind wir auch für die Wallfahrer da«.
Der Abmarsch beginnt am nächsten Morgen um sechs Uhr. Freddy Albert fühlt sich »frisch und ausgeschlafen« für den zweiten Abschnitt. Albert schmunzelt: »Eigentlich wollte ich nur ein einziges Mal mitlaufen.« Jetzt bestreitet der ehemalige Sendelbacher die Wallfahrt bereits zum 20. Mal. Sein mittlerweile verstorbener Freund Hans habe ihn damals motiviert, mitzugehen. Darum hat die Wallfahrt für den 71-Jährigen einen sehr persönlichen Hintergrund. Auch wenn sich an den Abläufen in all den Jahren nichts verändert hat, sind »viele Pilger in den letzten Jahren gestorben oder erkrankt«, sagt Albert. Für ihn bedeutet die Teilnahme ein Treffen mit seiner alten Heimat. Seit vielen Jahren lebt Albert in Laufach. Der sympathische Rentner ist immer im hinteren Bereich des Pilgerzuges zu finden. Für viele Teilnehmer übernimmt er dabei die Aufgabe eines Seelentrösters.
Die letzten Reserven

Die letzten Kilometer zum Kreuzberg befinden sich auf angenehmen Wanderwegen. Blühende Wiesen und der Weitblick auf die Berge der Rhön motivieren die Pilger, ihre letzten Reserven zu mobilisieren. Alle halten gut mit. Als das Kloster Kreuzberg in Sichtweite gelangt, macht sich ein Gefühl der inneren Zufriedenheit und des Glücks unter den Wallfahrern breit.
Über viele »anrührende Momente« berichtet dabei Annette Madre. Besonders der Zusammenhalt in der Gemeinschaft hat bei der 51-Jährigen »bleibende Eindrücke« bei ihrer ersten Wallfahrt hinterlassen. Eines weiß die Lohrerin jetzt schon: »Ich werde nächstes Jahr wieder mitmachen.« Dieser Aussage werden sich, das haben die letzten Jahre bewiesen, wieder die meisten Pilger anschließen.

Gurpreet ZagelUnsere Mitarbeiterin Gurpreet Zagel wuchs in Delhi, Indien, auf und lebt seit 14 Jahren in Lohr. Sie gehört der indischen Religionsgemeinschaft der Sikhs an. Erst in den vergangenen Jahren gewann sie einen Einblick ins Christentum. Durch einen Zufall ergab sich die Teilnahme an der Sendelbacher Kreuzbergwallfahrt, die Zagel aus Interesse an der Spiritualität begleitete.