Angelika Emde ist in Marktheidenfeld aufgewachsen und lebt mit ihrem Mann, Franz Hintereder-Emde, seit 1988 im Südwesten Japans in der Präfekturhauptstadt Yamaguchi. Zurzeit verbringt das Ehepaar mit seinen beiden Kindern den Heimaturlaub bei Emdes Eltern in Marktheidenfeld. Der Main-Post schilderten sie ihre Erlebnisse nach dem Erdbeben und der Reaktorkatastrophe in Japan.
Frage: Wie fühlen Sie sich, weit weg von Japan und zurück in der Heimat?
Angelika Emde: Wir sind auf Drängen meiner Eltern und deutscher Freunde gekommen. Ich selbst wäre wahrscheinlich in Japan geblieben, obwohl ich mich zusehends unsicher gefühlt habe aufgrund der Berichte im Fernsehen. Es ist beklemmend, hier zu sein und zu wissen, was Japan droht. Das ist kein schönes Gefühl.
Fühlen Sie sich hier sicher?
Franz Hintereder-Emde: Natürlich! Aber wir würden auch in Yamaguchi sicher sein. Eine unmittelbare Bedrohung für uns habe ich bisher nicht empfunden. Aber es ist deprimierend zu sehen, dass es keine großen Fortschritte gibt. Das Ausmaß des Erdbebens ist schlimm, weil es sich über 400 Kilometer erstreckt hat.
Wie haben Sie von der Katastrophe erfahren?
Emde: Über meine Mutter aus Deutschland. Ich hatte gerade draußen Wäsche aufgehängt, als ihr besorgter Anruf kam. Dann habe ich die Nachrichten verfolgt und von den immens hohen Wellen des Tsunami erfahren. Wir selbst haben aber überhaupt nichts gespürt.
Hintereder-Emde: Am Anfang hat man nur gehört, dass das Erdbeben sehr stark war, hat aber die Auswirkungen noch gar nicht abschätzen können.
„Die Japaner spielen mit dem Feuer, und das ist nicht zu verantworten.“
Franz Hintereder-Emde
Haben Sie sich nach den Nachrichten vom beschädigten Atomkraftwerk in Fukushima bedroht gefühlt?
Hintereder-Emde: Wenn in Japan ein Erdbeben passiert, wird normalerweise sofort über den Zustand der Atomkraftwerke berichtet. Diesmal hieß es, es gebe Komplikationen. Da haben wir uns schon gedacht: Hoffentlich geht es gut! Erdbeben gibt es in Japan öfter und das ist immer eine Bedrohung für die Atomkraftwerke, auch wenn immer wieder beteuert wird, dass es kein Problem sei. Bei einem Beben vor ein paar Jahren hat sich herausgestellt, dass eines der Atomkraftwerke direkt auf einer Erdspalte steht, was bislang verschwiegen wurde. Die Japaner spielen mit dem Feuer, und das ist nicht zu verantworten.
Emde: Ich war in Sorge, als ich die ausländischen Nachrichten verfolgt habe, in denen es schlimmer dargestellt wurde als in japanischen Medien. Aber grundsätzlich wird in Japan sehr sachlich darüber informiert.
Hintereder-Emde: Außer von den Atomkraftwerksbetreibern: Die hätten sich in den ersten Tagen lieber die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass es gefährlich wird. Aber auch Atomspezialisten von den Universitäten haben mit einer unglaublichen Arroganz auf die Katastrophe reagiert und wollten zunächst nicht akzeptieren, dass etwas Gefährliches im Gange ist. Das war eine Situation, mit der auch die Fachleute nicht zurechtkommen konnten, schon mental nicht. Einfach, weil niemand damit gerechnet hat. Sie waren hilflos.
Gab es in Ihrer Region Beeinträchtigungen in Ihrem persönlichen Alltag?
Emde: Psychisch bin ich ziemlich geschafft und insofern froh, dass wir jetzt hier sind. Eine Freundin aus der Erdbebenregion hat mir erzählt, dass am Tag danach nichts mehr in den dortigen Supermärkten zu bekommen war. Alles war leergekauft. Freunde von uns aus Tokio haben ihre Familienangehörigen aufs Land geschickt. Man sah viele deprimierte Menschen. Japaner sind eigentlich freundlich und eher heiter – das „Land des Lächelns“. Doch die Gesichter und die Stimmung haben sich gewandelt. Das ganze Land ist stark betroffen. Vorsichtshalber wurde in manchen Regionen oder Stadtteilen der Strom abgeschaltet, weil er knapp wurde. Durch eine solche Abschaltung war mein Gehalt nicht rechtzeitig aufs Konto gekommen – die Computer waren eine Zeit lang vom Netz. Sonst haben wir keine direkten Auswirkungen gespürt.
Konnten Sie selbst ohne Weiteres nach Deutschland ausreisen?
Hintereder-Emde: Die Reise an sich war wegen unseres Urlaubs schon geplant. Wir fliegen einmal im Jahr für drei Wochen nach Deutschland.
Emde: Ich habe meinen Flug online gebucht. Das war kein Problem, weil wir nicht über Tokio fliegen, sondern über Seoul in Korea. Das ist unsere normale Route. Und es war auch nicht teurer als sonst.
Wollten jetzt immer noch viele Menschen weg?
Hintereder-Emde: Der Flughafen war ziemlich voll und man musste sich in drei Schlangen anstellen, aber unser Flugzeug war nicht ausgebucht.
„Japan ist sachlicher. Man weiß, dass es schlimm ist, aber es wird nicht ausgesprochen.“
Angelika Emde
Können Sie verstehen, dass in Deutschland nun so eine vehemente Atomdebatte begonnen hat?
Emde: Ja. Deutschland hat die Grünen und die Anti-Atomkraftbewegung. In Japan gibt es keine Partei wie die Grünen. Das Bewusstsein für die Umwelt ist in Deutschland sicherlich groß im weltweiten Vergleich. Die Debatte ist notwendig und gut, aber es ist traurig, dass sie erst nach solchen Katastrophen in Gang kommt. Wir hoffen, dass nun auch in Japan ein Umdenken erfolgt. Allerdings ist das schwierig, weil das Land eine hohe Bevölkerungsdichte und auch einen großen Energieverbrauch hat.
Aus unserer Sicht erscheinen die Japaner zurückhaltend und besonnen. Man nimmt kaum etwas von öffentlichen Protesten wahr. Ist das richtig?
Hintereder-Emde: Bürgerbewegungen haben in Japan nicht so eine Wirkung auf die Politik wie hier.
Emde: Die Menschen haben auch weniger Zeit, sich zu engagieren. Sie werden schon im Kindergarten stark vereinnahmt von einem ganz bestimmten Rhythmus und Arbeitsplan. Berufstätige sind oft von 8 bis 22 oder 23 Uhr unterwegs. Schüler gehen bis 16 Uhr auf die Schule und besuchen nicht selten von 19 bis 22 Uhr Nachhilfeeinrichtungen. Und sie haben viel weniger Ferien. Die Mütter engagieren sich oft als Freiwillige in bestimmten Gruppen – alles im Sinne der Gemeinschaft, weil es von ihnen verlangt wird. Deshalb gibt es wenig Engagement politischer Art. Da hält man sich bedeckt.
Was an veröffentlichten Äußerungen auffiel, war, dass es kaum Wut, Verzweiflung oder anderes emotionales Verhalten bei den nicht direkt Betroffenen gab. Ist das eine typische Charaktereigenschaft, dass man das nicht nach außen trägt?
Hintereder-Emde: Dass Japaner so reagieren, hat damit zu tun, dass sie im Kindesalter bereits auf Katastrophen vorbereitet werden. Es gibt dauernd Übungen, so dass sie auf ein Erdbeben ganz anders reagieren als Deutsche, die das nicht gewöhnt sind. Viele Leute haben durchaus eine unglaubliche Wut, stellen sie aber zugunsten von Solidaritätsaktionen mit den Bürgern zurück. Als man dann anfing, die Brände in Fukushima mit Hubschraubern aus der Luft löschen zu wollen, hat ein Journalist im Fernsehen mehrmals nachgefragt, ob das nicht eine Aktion sei wie bei einem Waldbrand. Irgendwann hatte man das Gefühl, er würde losschreien. Da merkt man dann, dass die Disziplin strapaziert ist.
Emde: Im Vergleich zu Deutschland ist Japan sachlicher. Man weiß, dass es schlimm ist, aber es wird nicht ausgesprochen.
Können die Ereignisse politische Folgen in Japan haben?
Hintereder-Emde: Bürgerproteste werden von Bürokratie und Politik oft ignoriert. Leider gehen viel zu wenige Leute auf die Straße. Das gilt auch für uns beide, aber als Ausländer sind wir da etwas zurückhaltend.
Was verwundert: Japan hat schlimme Erfahrungen mit dem Abwurf der Atombombe gemacht und baut trotzdem in unsicheren Erdbebengebieten Atomkraftwerke. Wie passt das zusammen?
Hintereder-Emde: Man sagt, Atomkraftwerke seien eine friedliche Nutzung. Ich finde tragisch, was Industrie und Politik dem Volk antun. Das ist eine Vergewaltigung. Andererseits ist das Leben in Japan sehr komfortabel; dort genießt man einen unglaublich hohen Lebensstandard. Wenn man den Japanern sagt, dafür müssen wir eben diesen Preis zahlen, dann sind die meisten dazu bereit, das Risiko einzugehen.
Emde: Sie denken da sehr pragmatisch.
„In Japan lebt man immer ein bisschen auf dem Vulkan.“
Angelika Emde
Nun werden Sie nach Ihrem Urlaub nach Japan zurückkehren. Ist das eine Rückkehr auf Dauer?
Hintereder-Emde: Wir sind jetzt über 20 Jahre dort, und ich werde nicht so einfach wieder in Deutschland Fuß fassen können und wollen. Aber wir fragen uns schon immer wieder: Wie wird unser Lebensabend ausschauen? Im Moment wissen wir noch nicht, wo die Kinder sein werden. Sie sind beide in Japan geboren und es ist durchaus möglich, dass sie dort bleiben. Möglicherweise werden wir zwischen beiden Ländern pendeln.
Emde: In Japan lebt man immer ein bisschen auf dem Vulkan, aber auch nach diesem Ereignis ist es nicht so schlimm, dass wir sagen, wir wollen da weg. Unsere Region gilt als sicher.
Was ist es, das Sie an Japan schätzen?
Emde: In Japan lebt man sehr angenehm, bequem und in einer sicheren Gesellschaft. Japaner sind freundlich und hilfsbereit. Wir sind zwar immer noch Ausländer, aber integriert. Wir haben viele japanische Freunde. Japan ist unsere zweite Heimat. Unsere Kinder sind noch japanischer als wir. Sie unterhalten sich untereinander nur auf Japanisch. Das ist ihre gemeinsame Sprache, auch wenn sie Deutsch können und wir Eltern zu Hause deutsch sprechen.
Angelika Emde und Franz Hintereder-Emde
Angelika Emde ist 1959 in Remscheid geboren und kam mit ihren Eltern 1970 nach Marktheidenfeld. Als Schülerin des 1. Abiturjahrgangs schloss sie 1979 am BNG ab. Anschließend studierte sie in Erlangen Germanistik, Französisch und Italienisch. Dort lernte sie ihren heutigen Ehemann kennen und ging 1988 mit ihm nach Japan, wo sie zuerst Deutsch unterrichtete und nun als Französischlehrerin an der Uni und für die japanisch-französische Gesellschaft arbeitet. Zusammen mit zwei japanischen Freundinnen betreibt die 52-Jährige außerdem einen Laden mit deutschem Holzspielzeug.
Franz Hintereder-Emde, Jahrgang 1958, stammt aus dem Raum Altötting. Nach dem Abitur studierte er in Erlangen Germanistik und Japanologie. Nach einem Studienjahr in Kyoto bekam er das Angebot, Deutsch an der Uni in Yamaguchi zu lehren. Obwohl Ausländer, bekam er eine Stelle als Beamter. In Erlangen promoviert, arbeitet der 53-Jährige heute als Professor für Germanistik an der Uni Yamaguchi.
Das Ehepaar lebt seit 1988 zusammen in der japanischen Präfekturhauptstadt Yamaguchi (190 000 Einwohner) im Südwesten von Japan auf der Hauptinsel Honshu – rund 1400 Kilometer von Fukushima entfernt. Nach der Heirat 1989 in Nürnberg kamen die beiden Kinder Christina (18 Jahre) und Michael (14) zur Welt.