Hip-Hop-Musik kommt aus der einen Ecke der Halle, in der anderen Ecke tippt ein Ball, dazwischen quietscht ein Trampolin. Es riecht nach einer Mischung aus Schweiß, Magnesia und Gummi. Die Luft ist stickig und abgestanden, und es ist unangenehm warm in dieser Sporthalle mitten im Osten von Berlin.
Der Unterricht ist an diesem Nachmittag in vollem Gange. 30 Schüler üben an Geräten, die quer durch die Halle verteilt sind. Mitten unter ihnen ist Moritz Haase, 17 Jahre, aus Karlstadt (Lkr. Main-Spessart) und seit drei Jahren Schüler auf der Staatlichen Artistenschule in Berlin. Mit jeder Unterrichtsstunde, jeder Kritik von seinen Lehrern und jedem Schweißtropfen kommt Moritz seinem Traum vom Artisten ein Stückchen näher: In ein paar Jahren auf den großen Bühnen der Varietés zu stehen und die Zuschauer mit seiner Trapez-Akrobatik für einen Moment zu verzaubern. „Man kann sich selbst verwirklichen und sein was und wer man will, weil es einfach die Bühne ist“, erklärt Moritz Haase seine Leidenschaft für die Artistik.
Was für Laien schon als zirkusreife Nummern durchgehen, nennen die Artistenschüler Dehnübungen. „Das machen wir am Anfang von jeder Unterrichtseinheit“, sagt Moritz, schnappt sich eine Gymnastikmatte und spreizt seine Beine zu einem Spagat, als wäre das die bequemste Sitzposition der Welt. Erst beugt er sich nach links, dann nach rechts und anschließend legt er sich mit dem Oberkörper auf den Boden. Routiniert streckt der junge Mann jeden Muskel seines athletischen Körpers, erst die Beine, dann die Arme und schließlich den Rücken. „Wenn man sich vorher gut dehnt, gehen die Übungen später viel leichter. Außerdem verringert man das Risiko, sich zu verletzen“, erklärt der 17-Jährige.
In der Staatlichen Artistenschule in Berlin pauken die Kinder und Jugendlichen nicht nur Mathe, Deutsch und Englisch, sie werden auch in Akrobatik und Jonglage, an Trapez und Drahtseil, in Äquilibristik (Gleichgewichtsübungen) und Gruppendarbietungen ausgebildet. In der neunten und zehnten Klasse gibt es eine Vorspezialisierung, bei der sich die Schüler in drei Genres ausprobieren können. In der elften Klasse legen sie sich dann auf eine Spezialdisziplin fest. Für Moritz war früh klar, was das ist: „Ich habe mich schon immer für Luftakrobatik interessiert und deshalb haben ich mich für das Solotrapez entschieden. Jonglage zum Beispiel war mir immer zu ruhig. Ich kann nicht 90 Minuten auf einem Platz stehen, deshalb kam das für mich überhaupt nicht infrage.“
Genug aufgewärmt. Trainer Andrzej Patla ruft an die Bodenmatte. Saltos stehen auf dem Stundenplan. Autorität strahlt der ehemalige Nationaltrainer der polnischen Turner aus.
„Der Künstler muss den Zuschauer mit auf eine Reise nehmen“
Moritz Haase, Artistenschüler
Lob scheint es bei diesem Trainertypus selten zu geben - dafür Kritik umso mehr. Ist Patla nicht zufrieden, sagt er das in einem strengen und bestimmten Ton. Das bekommt auch Moritz zu spüren. Der 17-Jährige soll einen Salto machen. Ein paar Schritte Anlauf und dann eine schnelle Vorwärtsdrehung. Moritz steht den Salto, Andrzej Patla ist dennoch nicht zufrieden und kritisiert seinen Schüler: Er müsse die Knie enger zusammen nehmen. Moritz hält sich an die Anweisungen und macht noch ein paar Saltos - bis Patla bestimmt, dass es reiche. Die Kräfte müssen schließlich für die Übungen am Trapez geschont werden.
Früh schon hat Moritz die erste Zirkusluft geschnuppert. Mit zehn Jahren nahm er zum ersten Mal an einem Zirkuscamp in Laudenbach (Lkr. Main-Spessart) teil. „Damals kam es mir nicht in den Sinn, Artist zu werden“, sagt er schmunzelnd. Sport habe er aber schon immer gerne gemacht, er hat Handball und Tennis gespielt. „Mit Kumpels aus der Grundschule haben wir einen Kinderzirkus vor Nachbarn und Bekannten aufgeführt“, erzählt Moritz und lacht bei der Erinnerung an seine ersten Auftritte. „Außerdem hatten wir ein kleines Reck zu Hause und ein sechs Meter hohes Gerüst im Garten. Das steht heute immer noch“, erzählt der gebürtige Karlstadter. Im Zirkuscamp hat ihm ein Zirkuspädagoge von der Artistenschule in Berlin erzählt. Er habe sich über die Schule informiert, sich für den Eignungstest angemeldet und die Aufnahmeprüfung bestanden, erzählt der 17-Jährige.
Die Artistenschüler kommen in der Regel in der fünften Klasse auf die Artistenschule. Es gibt auch Quereinsteiger, die erst in der elften Klasse den Weg in die Schule finden. Erst seit ein paar Jahren ist es möglich, ab der fünften Klasse auf die Artistenschule zu gehen. Ältere Jahrgänge, wie auch Moritz, haben die Schule erst ab der neunten Klasse besucht.
Die Umstellung vom Schülerleben in Karlstadt zum Artistenleben in Berlin war hart. „Es ist schon anstrengend, wenn man um 18.30 Uhr erschöpft aus dem Training kommt und bei Mathe noch aufpassen muss.“ Unterricht am Abend ist keine Seltenheit. Hatte Moritz zu Hause nach dem Unterricht Freizeit, ist sein Tag auf der Artistenschule bis in die Abendstunden vollgepackt. Morgens um acht Uhr geht es mit Schulunterricht los, um zehn Uhr steht dann die erste Trainingseinheit an. „Zwei Einheiten haben wir Training, dazwischen stehen Theorie oder Tanz auf dem Stundenplan.“
Die Sorge seiner Lehrer am Johann-Schöner-Gymnasium in Karlstadt konnte Moritz entkräften: „Meine Lehrer haben gefragt, ob die Artistenschule denn eine richtige Schule sei. Ich konnte sie beruhigen. Ich mache hier nebenbei ganz normal mein Abitur.“ Dennoch unterscheidet sich der Unterricht: „Die Lehrer wissen, dass wir nicht nur Schule haben und nehmen darauf auch Rücksicht.“
Mit 14 Jahren alleine von der 15 000-Einwohner-Stadt Karlstadt am Main in die größte Stadt Deutschlands - für Moritz' Eltern war es keine leichte Entscheidung, den Sohn ziehen zu lassen. „Meine Eltern waren nicht glücklich und skeptisch, als ich nach Berlin wollte. Ich konnte sie aber überzeugen, habe erst die Eignungsprüfung und dann die Aufnahmeprüfung bestanden. Mittlerweile haben sich meine Eltern damit angefreundet und unterstützen mich voll und ganz“, erzählt Moritz.
Anfangs hat Moritz seine Familie und seine Freunde sehr vermisst, mittlerweile hat er auch in Berlin einen Freundeskreis aufgebaut. „Die Kontakte nach Karlstadt werden weniger. Man bekommt ein anderes Verhältnis zu den Leuten“, sagt der 17-Jährige. Trotzdem hat es eine Zeit gedauert, bis sich Moritz vom kleinstädtischen Leben in Karlstadt an das Leben in der Großstadt Berlin gewöhnt hat: „Die Leute sind hier um einiges offener und das Künstlerleben ist freier und anders.“
In eineinhalb Jahren macht Moritz seinen Abschluss an der Artistenschule. Wo danach sein Weg hingeht, davon hat der 17-Jährige schon klare Vorstellungen. „Die Abschlussklasse macht eine Tour durch verschiedene Varietés in Deutschland. Und dabei wird man hoffentlich gesehen. Und wenn man die ersten zwei Jahre als Artist überstanden hat, dann hat man in der Branche Fuß gefasst. Davon kann man sogar ganz gut leben - leider aber nicht immer.“
Von den Verantwortlichen der Varietés gesehen werden, im Gedächtnis bleiben - das ist für die Künstler wichtig. „Die Basis ist eine gewisse Leistung. Aber drum herum muss die Inszenierung stimmen, der Künstler muss den Zuschauer mit auf eine Reise nehmen, dass er sich im Nachhinein noch an die Performance erinnert“, sagt der 17-Jährige.
Im Gedächtnis einiger Verantwortlicher ist der Nachwuchsartist Moritz Haase schon jetzt. Auf der Berliner Fashion Week vor wenigen Wochen hat Moritz die Modenschau des Designers Matthias Maus eröffnet, der auch schon Kleider für Katharina Witt und Paris Hilton entworfen hat. „Ich habe eine Tuchnummer und einen Tanzact gemacht und dabei Kleider des Designers getragen“, erzählt Moritz. Außerdem ist Moritz zum ersten Mal im Varieté Wintergarten aufgetreten. „Es war sehr kurzfristig. In drei Tagen haben wir die Nummer konzipiert“, so Moritz.
In der Region hatte Moritz auch verschiedene Auftritte. Beim Stramu in Würzburg hat der 17-Jährige mittlerweile drei Mal teilgenommen, mit elf Jahren das erste Mal beim Nachwuchswettbewerb. „Mit Nico Leist aus der Artistenschule bin ich im vergangenen Jahr im Ehrenhof vom Rathaus in drei Tagen zehn Mal aufgetreten. Das war anstrengend, aber es ist immer schön, in der Heimat aufzutreten“, erzählt der gebürtige Karlstadter.
Bisher ist Moritz glücklicherweise von Verletzungen verschont geblieben. Irgendwann wird es ein Leben nach der Artistik geben. Einen Plan B hat der 17-Jährige schon jetzt in der Tasche: er interessiert sich sehr für Kostümdesign. „In dem Bereich kann ich mir meine Zukunft vorstellen.“ Nebenbei designt und näht der 17-Jährige seine eigenen Klamotten. „Meine Mama hat mir das beigebracht und meine Taufpatin ist Schneiderin“, erzählt Moritz. „Ich probiere viel aus und manchmal komme ich zu was. Ich unterscheide in meinem Kleidungsstil auch nicht wirklich zwischen Bühnenkleidung und Alltagskleidung“.
Artistenschule
300 Schüler gehen auf die Staatliche Schule für Artistik und Ballett, davon 109 Schüler auf die Artistenschule. 1956 als "Staatliche Fachschule für Artistik" gegründet, wurde sie 1991 mit der Staatlichen Ballettschule zusammengelegt. An der einzigen staatlichen Schule für Artistik in Deutschland machen die Schüler eine neunjährige Ausbildung zum "staatlich geprüften Artisten" mit verschiedenen Bildungsabschlüssen, wie dem Abitur.
Pro Schuljahr gibt es drei Eignungstests, für die sich 60 bis 100 Jugendliche bewerben. Die talentiertesten werden zur Aufnahmeprüfung eingeladen, 15 werden genommen.
Weitere Informationen: www.ballettschule-berlin.de/cids/artistik/ FOTO: Lena