Schon in seinem Dokumentarfilm "Die Mechanik des Wunders" (1992) und seinem ersten Fernsehspiel "Himmel und Hölle" (1994) setzte sich Deutschlands wohl innovativster Jung-Regisseur Hans-Christian Schmid mit Glaubensfragen auseinander. In seinem fünften Kinofilm greift er nun das Schicksal der Studentin Anneliese Michel auf, die in den 70er Jahren in Klingenberg nach mehreren exorzistischen Sitzungen an Entkräftung starb.
Schmid, der ganz bewusst das Geschehen verfremdend von Bayern ins Schwäbische verlegte, erspart uns Gott sei Dank digitalen Dämonen-Horror, mit dem voyeuristische Hollywood-Produktionen wie unlängst "Der Exorzismus der Emily Rose" Kasse zu machen versuchten; er erspart uns aber in seiner Bearbeitung des Stoffes nicht die Auseinandersetzung mit der dörflichen und familiären Umklammerung, die mit ihrer engstirnigen Dominanz einem jungen Menschen buchstäblich die Luft zum Atmen raubt.
Hans-Christian Schmid reizt seinen weniger-ist-mehr-Inszenierungsstil auch hier wieder maximal aus und verlässt sich darauf, dass der Zuschauer mit Andeutungen umzugehen weiß. Mit beispielhaft erzählerischer Reife, psychologischer Einfühlsamkeit und ohne jede Schuldzuweisung entfaltet Schmid das Drama um die epilepsiekranke Michaela, wie sie im Film heißt, als Soziogramm ihres Umfelds und als subtiles Psychogramm und genau beobachtetes Krankheitsbild einer introvertierten jungen Frau, die sich vergeblich dem Einfluss verkrusteter Familienstrukturen zu entziehen versucht. Zusammen mit Hanna, einer ehemaligen Schulkameradin, und dem Chemiestudenten Stefan erlebt Michaela in Tübingen, wo sie gegen den Willen der Mutter, aber mit der Unterstützung des Vaters studiert, ein kurzes Glück. Aber Michaela plagen Schuldgefühle, die Schatten der Vergangenheit holen sie ein. Ärzte und Medikamente versagen, die psychotischen Schübe werden immer stärker, die epileptischen Anfälle eskalieren in religiöse Wahnideen. Doch anstatt die Kranke in psychiatrische Obhut zu geben, bitten die Eltern zwei Priester, einen Exorzismus durchzuführen, dem Michaela schließlich, ganz weltentrückt und opferbereit lächelnd, zustimmt.
Nach diesem Schlussbild, das stärker ist als jeder Horror-Effekt, entfernt sich die Kamera vom Ort des Geschehens. Damit unterstreichen Schmid und sein Drehbuchautor Bernd Lange noch einmal die Ernsthaftigkeit, mit der sie sich des Stoffes ohne Effekthascherei angenommen haben und erreichen, dass ihre im besten Sinne moralische Spurensuche eines tragischen Scheiterns im Gedächtnis des Zuschauers bleibt.
Die für die Gestaltung der Hauptrolle mehrfach preisgekrönte Theaterschauspielerin Sandra Hüller bietet eine grandiose Tour de Force, die von präzise kleinen Gesten der Verzweiflung bis hin zum großen Ausbruch reicht. Aber auch die anderen Darsteller, allen voran Burghart Klaußner als zwischen Verständnis und Sorge zerrissener Vater, machen dieses Melodrama zu einem berührenden Erlebnis - gewiss keine leichte Kinokost, aber unbestritten einer der besten deutschen Filme des Jahres, der kürzlich in zehn Kategorien für den Bundesfilmpreis nominiert wurde.
Der Film ist freigegeben ab 12, mit Eltern ab 6 Jahre.