Manche älteren Zeitgenossen kennen das Geräusch noch, das entsteht, wenn eisenbereifte Speichenräder aus Holz holpernd über unbefestigte Wege rollen. Vor allem in den Dörfern waren bis in die 60er Jahre Kuh- und Perde-Gespanne mit diesen Rädern am kleinen Mistwagen oder am größeren Leiterwagen anzutreffen. Diese Transportmittel, wie auch Schubkarren und Handwagen, fertigten über die Jahrhunderte hinweg Handwerker, die Wagner, ganz und gar aus Holz.
Einer der das Wagnerhandwerk noch erlernt hat, ist Günther Wirthmann aus Hofstetten. Der 79-jährige Rentner war der letzte „Stift“ des Langenprozeltener Wagnermeisters Robert Egert, bei dem er von 1951 bis 1953 in die Lehre ging. Nach dem Krieg war es nicht einfach, eine Lehrstelle zu bekommen. Es war selbstverständlich, dass man dabei für zehn Mark monatlich im ersten und zweiten Lehrjahr und für 15 Mark im dritten Jahr auch Arbeiten in der kleinen Landwirtschaft und im Haus des Meisters erledigen musste. Auch dass der Meister den ganzen Tag über Kirchenlieder sang, empfand der Lehrling als unerheblich.
„Der Wagner arbeitet mit gewachsenem Holz. Er muss es selbst aussuchen.“
Günther Wirthmann über die Besonderheit des Berufs
Im Gespräch lässt der Ruheständler, der mit Gartenarbeit, Obstbaumpflege, Hühnerhaltung und Holzmachen keine Langeweile hat, nicht nur das über Jahrhunderte gewachsene und jetzt nahezu verschwundene Handwerk lebendig werden. Er beschreibt darüber hinaus die sozialen Verhältnisse und Lebensbedingungen, wie sie vor noch nicht allzu langer Zeit in den Dörfern und Kleinstädten unserer Region vorherrschten. Allgegenwärtige Themen sind, sich im Alltag ohne viel Geld zurechtzufinden, das Gottvertrauen und die Achtung vor der Natur. Trotz aller widriger Umstände waren die Menschen zufrieden.
„Der Wagner, wie auch der Küfer, arbeitet mit gewachsenem Holz. Er muss es selbst für den Verwendungszweck im Wald aussuchen. Das Holz des Schreiners und des Zimmermanns geht durch das Gatter (des Sägewerks).“ Solch gesägtes Material würde bei Belastung der vom Wagner hergestellten Stücke reißen, weil es nicht der Maserung folgt. So erklärt Wirthmann, was das Wagnerhandwerk von den anderen Holz-Berufen unterscheidet.
Die Produktpalette der Werkstatt, sie hat der Wagnersgasse in Langenprozelten ihren Namen gegeben, war sehr breit gefächert. Alle Bestandteile eines Wagens entstanden ganz nach Wunsch des Auftraggebers in Handarbeit: Von den Rädern und Leitern bis zur Deichsel und dem zum Einspannen nötigen Schildscheit. Als Grundlage dienten langsam gewachsene heimische Harthölzer, wie Eiche, Buche, Birke, Esche oder Weißbuche.
Um deren speziellen Eigenschaften wussten die Wagner, im Norddeutschen Stellmacher genannt, nicht erst seit der Postkutschenzeit, als ihr Beruf in Hochblüte stand. An einem Wagenrad hatte ein fleißiger Geselle mindestens zehn Stunden zu schaffen. Für die Nabe und die Speichen wurde Eiche verarbeitet und für die Felgen Rotbuche. Bei den waagrecht eingehängten Wagenleitern kam die leichte, langfaserige Birke zum Einsatz, wie auch bei den Handwagen und Obstleitern.
„Das Grundmaterial für einen Holzschlegel suchte man am besten im Abfallholz der Weißbuche. Richtig verwachsen und knorzig sollte der Kopf sein, dann sprang er auch nicht beim Draufhauen“, sagt Günther Wirthmann. Zum Sortiment der kleineren Alltagsgegenstände zählten außerdem Schaufel- und Besenstiele, Streurechen und Dreschflegel, bis hin zum in der Karwoche von der Dorfjugend gefragten Klöpperkasten. Handwerkszeug, hauptsächlich Beil und Schnittmesser, mussten extrem scharf sein. „So eine Schärfe war nur mit dem Nassschleifen auf dem mit der Handkurbel gedrehten großen Sandstein zu erreichen“, berichtet Wirthmann.
Mit diesem Werkzeug, dem Wissen und Können, gelang es der Werkstatt auch kurzfristige Aufträge zu erledigen: „Da kam im Winter der Müller aus Schönau mit seinem Lastschlitten, dessen eine Kufe gebrochen war. Der Meister ist mit mir durch den Schnee gestapft, wir haben uns am Zollberg einen krumm gewachsenen Baum ausgesucht, danach bei einem größeren Bauern ein Pferd ausgeliehen und den Stamm an den Häusern vorbei bis in die Werkstatt gezogen.“ Zwei Tage später war der Schlitten einsatzfähig.
„Die Zeiten ändern sich eben. So war es immer, und so wird es bleiben.“
Günther Wirtmann über den Wandel
Meistens gingen die Räder der Wagen zu Bruch, die immer aus sechs Felgen und zwölf Speichen bestanden. Vor allem beim Einsatz im Forst gab es schnell Schäden. Kein Wunder, dass viel Kundschaft aus Ruppertshütten und Rieneck stammte. Für ein neues Rad musste der Auftraggeber immerhin hundert Mark berappen und für den Schmied war der gleiche Betrag fällig. Er setzte die eisernen Ringe um die Nabe und den Reifen auf die Felgen. Das war viel Geld, und manche Kleinbauern verschuldeten sich deshalb bei den Handwerkern oder arbeiteten die Verbindlichkeiten ab, in dem sie für die Meister Mist oder Sudel (Gülle) fuhren.
Auf Veränderungen in der Berufswelt angesprochen, stellt der aktive Senior ohne Sentimentalitäten fest: „Die Zeiten ändern sich eben. So war es immer, und so wird es bleiben.“ Mit dem Wirtschaftswunder kamen gummibereifte Wagen, die Zugtiere wurden durch Bulldogs ersetzt und im Wald fuhren Lastkraftwagen, zunächst noch mit Holzvergaser.
Die Wagnerei hatte daher auch in Langenprozelten keine Zukunft mehr und der junge Wirthmann verdiente seinen Lohn künftig bei verschiedenen Baufirmen, unter anderem als Baggerfahrer, bevor bis zum Renteneintritt 1999 beim Kreisbauamt die Straßen des Landkreises sein Arbeitsfeld wurden. Wie bestellt, kommt in diesem Moment der Enkelsohn Tobias zu Besuch. Er ist von Beruf Kfz-Mechatroniker und hilft Großvater Günther Wagner, für das Zeitungsfoto ein hölzernes Wagenrad aus der Scheune zu holen. Es ist das 1953 gefertigte Gesellenstück des Großvaters.