Sie kam 1928 im Karlstadter Stadtteil Wiesenfeld (Lkr. Main-Spessart) zur Welt, überlebte den Holocaust und wurde in Amerika zur wohl bekanntesten Sexualtherapeutin. Als „Dr. Ruth“ erklärt die nur 1,44 Meter große Ruth Westheimer US-Bürgern seit Jahrzehnten, was guten Sex ausmacht.
Sie ist Gastdozentin an Eliteunis, hat mehr als 30 Sachbücher zum Thema Sex geschrieben und moderierte in den 1980ern die Radiokolumne „Sexually Speaking“. Nun wird „Dr. Ruth“ 90 Jahre alt, von Ruhestand will sie aber nichts wissen. Ein Gespräch über Gefühle – für den Partner, Wiesenfeld und eingesperrte Gänse.
Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre Kindheit in Unterfranken?
Aufgewachsen bin ich in Frankfurt, aber immer in den Ferien war ich in Wiesenfeld. Ich habe gerade ein neues Kinderbuch auf Englisch geschrieben, „Roller-Coaster Grandma – The Amazing Story of Dr. Ruth“, und die erste Geschichte in diesem Buch spielt auf dem Bauernhof meiner Großeltern in Wiesenfeld. Denn als ich ein kleines Mädchen war, fünf Jahre alt, wollte ich nicht, dass die Gänse dort auf dem Hof eingesperrt sind. Ich wollte, dass alle Leute und auch die Tiere frei sind. Deshalb bin ich um fünf Uhr in der Früh aufgestanden und habe alle Gänse rausgelassen, ins ganze Dorf. Man hat mich natürlich geschimpft. Mich würde es sehr freuen, wenn das Buch übersetzt würde und auch auf Deutsch herauskäme.
Ihre Eltern sind jüdisch-orthodox, beide starben in Auschwitz. Sie selbst entkamen dem Zweiten Weltkrieg dank eines Kindertransportes in die Schweiz. Welche Gefühle verbinden Sie heute mit Deutschland?
Das Wichtige ist, dass ich kein Problem mit jüngeren Menschen habe. Außerdem bin ich Konrad Adenauer bis heute sehr dankbar, weil er Israel vor 70 Jahren sehr geholfen hat. Ich gehe jedes Jahr nach Israel und dort treffe ich immer auf junge Deutsche, die zum Beispiel in Altersheimen helfen. Das ist gut: Eine Gruppe von jungen Leuten, die aus Idealismus Israel helfen.

Nach dem Krieg zogen Sie nach Palästina und kämpften für ein freies Israel, bis sie von einer Granate schwer verletzt wurden. Wie kamen Sie dann dazu, Sexualtherapeutin zu werden?
Nachdem ich in Israel war, habe ich an der Sorbonne in Frankreich Psychologie studiert, war dann zu Besuch in Amerika und habe gesehen, dass ich hier weiterstudieren kann. Ich habe geheiratet und zunächst im Bereich Familienplanung gearbeitet. Anschließend habe ich Sexualtherapie an der Cornell Medical School studiert und schließlich ein eigenes Radioprogramm bekommen. Zehn Jahre lang habe ich das gemacht. Und ich war jedes Jahr bei der Frankfurter Buchmesse und kam immer mit einem Vertrag für ein neues Buch zurück.
Die Fragen zum Thema Sex, haben Sie einmal gesagt, seien überall die gleichen. Welche ist Ihnen am häufigsten gestellt worden?
Was heute am wichtigsten ist, ist die zwischenmenschliche Beziehung. Denn ohne eine gute zwischenmenschliche Beziehung klappt auch das Sexualleben nicht.
Stimmt das Vorurteil, die Amerikaner seien prüder als die Europäer?
Das stimmt nicht. Die Amerikaner haben die besten wissenschaftlichen Kenntnisse über Sexualtherapie. Aber es stimmt: Es war etwas schwierig, damit anzufangen, über Sachen zu reden.
Heute ist das Thema allgegenwärtig. Eine positive oder negative Entwicklung?
Im Allgemeinen ist es positiv. Was mir heute mehr Sorgen als die Sexualfragen macht, ist, dass so viele Leute einsam sind. Ich spreche deshalb sehr viel darüber, wie wichtig die Beziehung ist. Aber dass das sexuale Wissen jetzt besser ist, freut mich sehr.
Am Montag werden Sie 90 Jahre alt. Von Ruhestand aber wollen Sie nichts wissen?
Ganz bestimmt nicht. Für mich gibt es keinen Ruhestand. Ich gehe zum Beispiel heute (Anmerkung der Redaktion: Das Gespräch wurde am 31. Mai geführt) zur Buchmesse hier in New York. Dann gibt es eine Riesenfeier zu meinem 90. Geburtstag: 315 Leuten kommen und es wird gefeiert und getanzt.
Wollen Sie Ihren Geburtsort noch einmal zu besuchen, bevor Sie 100 werden?
Das weiß ich noch nicht. Wenn ich komme, lasse ich es Sie wissen.