Seit 50 Jahren verrichtet eine Glocke ihren Dienst in Marktheidenfeld, die wohl aus dem 15. Jahrhundert stammt: die Glocke der Johannes-Kapelle im Diakonischen Seniorenzentrum Haus Lehmgruben, zu den Rummelsberger Diensten für Menschen im Alter gehörend. Sie ist die älteste Glocke im Bereich der Kernstadt.
Für den Neubau ihrer Johannes-Kapelle suchten die Schwestern des damaligen Mutterhauses der Diakonissen eine passende Glocke. Ursprünglich im schlesischen Breslau (heute: Wroclaw) beheimatet, waren die Schwestern nach Flucht und Vertreibung in Folge des Zweiten Weltkriegs zunächst im wenige Kilometer mainabwärts gelegenen Schloss/Kloster Triefenstein untergebracht und hatten 1950 in Marktheidenfeld ihr Mutterhaus neu errichtet. 1965 wurde mit dem Bau der Johannes-Kapelle begonnen, die im Jahr darauf geweiht wurde.
Die Glocke stammt aus dem früheren Bertholdsdorf (heute: Uciechow) im Regierungsbezirk Breslau. Sie musste wie viele Glocken im Zweiten Weltkrieg abgeliefert und sollte eingeschmolzen werden, um Bronze für „Kriegszwecke“ zu gewinnen. Etwa 56 000, nach anderen Quellen zwischen 75 000 und 80 000 Glocken, seien der 1940 angeordneten „Glockenaktion“ der Nazi-Herrschaft zum Opfer gefallen. Der auf die „Metallspende“ gerichtete „Aufruf zur Spende des deutschen Volkes zum Geburtstag des Führers“ wurde von Hermann Göring am 27. März 1940 erlassen. Das Dekret an die Reichsminister datiert vom 23. Februar 1940.
Die Glocke aus Bertholdsdorf überstand das Kriegsende. Damals warteten allein auf einem Glockensammelplatz – „Glockenfriedhof“ genannt – in Hamburg mit ihr noch Tausende Glocken auf den Schmelzofen. Bei der Auflösung des Platzes wurde die Bertholdsdorfer Glocke dem Erzbistum Freiburg überlassen und von diesem bei einer Heidelberger Glockengießerei eingelagert. 1965 kam sie nach Marktheidenfeld.
Die Glocke hat einen Durchmesser von 53 Zentimetern und ist auf den Ton b gestimmt. Um ihre Schulter trägt sie in gotischen Minuskeln in lateinischer und deutscher Sprache die Inschrift „O König der Ehren komm in Frieden.“ Die Worte werden durch stilisierte Lilien getrennt. Zwar ist die Glocke nicht datiert, ihre Gestaltung lässt aber vermuten, dass sie im 15. Jahrhundert gegossen worden ist.
Am Mittwoch, 27. Oktober 1965, also genau vor 50 Jahren, läutete die Glocke um 16 Uhr zum ersten Mal in Marktheidenfeld. In einem Pressebericht ist zu lesen: „Auf den Balkonen und an offenen Fenstern standen die Diakonissen. Die kranken Schwestern und Pensionistinnen ließen sich die Fenster öffnen, um den ersten Glockenschlag ihrer Betglocke mitzuerleben.“ Der Klang der Glocke sei als „ein lieber Gruß aus der Heimat Schlesien“ empfunden worden.
Rund 1300 Glocken aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten sollen heute mit ihrem Klang in den alten Bundesländern Deutschlands die Gläubigen zum Gebet rufen.
ONLINE-TIPP
Zu hören ist die Glocke auch im Internet: www.stadt-marktheidenfeld.de – Bildung & Soziales, Kirchengemeinden – Glockenklang in Marktheidenfeld (audioclip_johannes_glocken.mp3)