Ein Stück jüdisches Leben ist digital nach Lohr zurückgekommen: Das lange verschollen geglaubte Protokollbuch der Israelitischen Gemeinde Lohr, das die Gestapo in der Reichspogromnacht 1938 beschlagnahmt hatte, liegt im Stadtarchiv jetzt als Scankopie vor.
Im Dezember 1954 traf mit den Archivbeständen von 200 ehemaligen israelitischen Kultusgemeinden aus dem bayerischen Hauptstaatsarchiv in München auch das erste Protokollbuch der Israelitischen Gemeinde Lohr in Jerusalem ein. Es umfasste den Zeitraum von 1867 bis 1913.
Die Bestände waren für das dortige "Zentrale Archiv für die Geschichte des Jüdischen Volkes" bestimmt. Ähnliches erfolgte auch für alle anderen Bundesländer in der damaligen Bundesrepublik. Der junge jüdische Staat sah sich als Rechtsnachfolger der im Dritten Reich untergegangenen jüdischen Gemeinden an. Dieses Selbstverständnis ebnete letztlich den Weg in Deutschland für die Überstellung dieser Archivbestände nach Israel. Auch des eben erwähnten ersten Protokollbuchs der Israelitischen Gemeinde Lohr.
Zweites Buch offenbar zerstört
Das Protokollbuch war bis dahin im Staatsarchiv Würzburg verwahrt worden. Es befand sich wohl unter den wenigen von der Gestapo nach der Reichspogromnacht in der Lohrer Synagoge sichergestellten "Judensachen", wie es im damaligen Nazi-Jargon hieß. Ein Protokollbuch war Gemeindeeigentum und wurde daher stets in der Synagoge aufbewahrt. Die Gestapo hatte Order, sogar aus Berlin, "im Zuge der Aktionen gegen die Juden" in der Reichspogromnacht solch relevante Unterlagen zu konfiszieren und an die zuständigen Staatsarchive zu übergeben. Oft kamen die Befehle zu spät.
So auch für das zweite Protokollbuch (1913-1938), das offenbar die Zerstörungswut der Lohrer SA nicht überstanden hat. Auch im Jerusalemer Bestandskatalog ist das Buch nicht verzeichnet. Es ist ein unersetzbarer Verlust, da es den Überlebenskampf der israelitischen Kultusgemeinde ab 1933 dokumentiert hat. So auch, wie man aus dritter Quelle weiß, die letzte Gemeindewahl Anfang 1938, als der seit 1926 amtierende Kultusvorstand Simon Strauß in seinem Amt bestätigt wurde und bereits von "Auflösungsnahe" der Gemeinde die Rede war.
2015 umfangreich eingesehen
Die Archivierung des Protokollbuchs in Jerusalem ist in den Jahren nach 1954 allerdings erst einmal wieder in Vergessenheit geraten. Dazu beigetragen hat sicher, dass das Protokollbuch lange Zeit nur in Jerusalem einsehbar war. Auch Karl-Ludwig Löffler, der zu Archivstudien in Israel war und das Zentralinstitut kannte, zitierte zwar zweimal aus einem Archivstück "Würzburg Repetitorium 410" des Jerusalemer Zentralarchivs in seinem Aufsatz über "Die Juden in Lohr und seiner näheren Umgebung". Dass sich dahinter das Lohrer Protokollbuch verbarg, ergab aber erst die gezielte Rückfrage von Wolfgang Vorwerk in Jerusalem.
In der deutschsprachigen Forschung wurde es erstmals für den 2015 erschienenen unterfränkische Synagogengedenkband "Mehr als Steine…" umfänglich eingesehen. Der Bearbeiter des Kapitels "Lohr mit Steinbach", Hans Schlumberger, war dazu sogar eigens nach Jerusalem gereist. Viele seiner Notizen flossen in seinen Lohr-Beitrag ein. Ein weiterer, ursprünglich geplanter Archivbesuch in Jerusalem kam jedoch nicht zustande.
Das veranlasste Wolfgang Vorwerk 2018 zu einer Nachfrage in Jerusalem, ob es auch andere Möglichkeiten der Einsichtnahme gebe. Das Ergebnis: Man hatte dort die Möglichkeit, Scans des Originals anzufertigen und als Digitalisat zur Verfügung zu stellen. Die sodann eingeleitete Beschaffung einer privaten Scankopie 2018 ermöglichte es dem Vorsitzenden des Geschichts- und Museumsvereins, sich ein eigenes Bild vom Inhalt zu machen.
Der Inhalt ist ein Schatz
Schon der erste Eindruck bestätigte, was auch Schlumberger festgestellt hat: Der Inhalt des Stückes ist ein Schatz. Das Buch ermöglicht auf seinen rund 140 Seiten Einblicke in das Leben der ersten geschichtlich nachweisbaren Lohrer jüdischen Gemeinde, die sich 1864 konstituiert hat. Als Gemeindeeigentum enthält es viele schriftlichen Zeugnisse, die für eine jüdische Gemeinde rechtsrelevant waren, insbesondere auch die behördlich geforderten Statuten. Auch die turnusgemäßen Vorstandswahlen und damit die Namen aller Kultusvorstände der Gemeinde finden sich protokolliert. Diese Wahlprotokolle waren bis zuletzt (1939/1940) die einzige Möglichkeit für die Vorstände, sich bei Behörden oder etwa Notaren als gewählte Handlungsbevollmächtigte der Gemeinde auszuweisen.
Das Lohrer Buch zeigt auch die Mühen der kleinen Gemeinde auf, die Finanzierung des Synagogenkaufs von 1871 in der Fischergasse zu stemmen. Das Protokollbuch belegt zudem den Einbau eines Frauenbads (Mikwe) 1871. Reste davon gibt es möglicherweise noch heute unter den Abdeckungen im hinteren Teil des ehemaligen Synagogengebäudes. Die Beschaffung wenigstens einer Kopie stand danach außer Frage.
Nutzungsvertrag war erforderlich
Wegen der strengen Nutzungsbedingungen des Zentralarchivs musste freilich ein anderer Weg gewählt werden, um das Buch der Lohrer Allgemeinheit zugänglich zu machen. Wolfgang Vorwerk hatte bei einem Vortrag über die Synagoge 2021 Bürgermeister Mario Paul spontan das Versprechen abgegeben, das Protokollbuch nach Lohr zu holen. Dieses war der Auslöser, diese Möglichkeit konkret zu prüfen.
Doch es war nicht ganz einfach. Letztlich war ein Nutzungsvertrag zwischen der Stadt Lohr und dem Zentralarchiv in Jerusalem – der Geschichtsverein vermittelte den Kontakt – die Lösung. Dies ermöglichte das Überspielen einer Scankopie auf das Laufwerk des Lohrer Stadtarchivs.
So konnte das Protokollbuch in gewisser Weise heimgeholt werden, denn es ist ein wichtiges Dokument auch für die Stadtgeschichte Lohrs. Die anfallenden Kosten übernahm der Geschichtsverein.
Terminvereinbarung nötig
Interessenten können sich künftig an die Leiterin des Stadtarchivs, Marina Hanas, wenden, um mit ihr einen Termin zur Einsichtnahme zu vereinbaren. Das gilt werktags in den Zeiten von 8 bis 12 Uhr. Donnerstags kann das Buch vormittags auch bei Josef Harth im Stadtarchiv nach vorheriger Vereinbarung eingesehen werden. Eine Transkription des in Deutsch geschriebenen Buchs steht freilich noch aus, ebenso wie eine systematische Auswertung.
Zum Autor: Wolfgang Vorwerk ist der Vorsitzende des Lohrer Geschichts- und Museumsvereins.