3. Mai 1986. Pokalfinale in Berlin. Der FC Bayern München schlägt den VfB Stuttgart mit 5:2 Toren. Thomas Weingart ist dabei. Zusammen mit Freunden war der Student im Auto über die Transitstrecke in die noch geteilte Stadt gefahren. „Dass die Mauer einmal fallen würde, war für mich damals absolut unvorstellbar“, erinnert sich der 49-Jährige. Ganz und gar unvorstellbar war für Weingart, dass er nur wenige Jahre später beruflich im Osten tätig sein sollte.
Doch 1991 ging alles ganz schnell. Weingart hatte sein Jura-Studium abgeschlossen und war seit zwei Jahren Abteilungsleiter für Kommunales und Soziales am Landratsamt in Karlstadt. Dann kam ein Anruf aus der Regierung: Ob Weingart sich vorstellen könne, als Aufbauhelfer in den Osten zu gehen? Da der Einsatz auf ein halbes Jahr begrenzt und er überdies familiär ungebunden war, sagte Weingart „ganz spontan zu“.
Schon zwei Wochen später ging es los – nach Klingenthal im südwestlichsten Zipfel Sachsens, unmittelbar an die Grenze zu Tschechien. Im einzigen Gasthaus der kleinen Stadt bezog Weingart ein Zimmer. Sein Arbeitsplatz war das Landratsamt Klingenthal. Der dortige Landrat hatte in Unterfranken um personelle Unterstützung angefragt. Die Personalnot war groß. Weingart: „Es gab massive Probleme, weil immer mehr bisherige Verwaltungsmitarbeiter als inoffizielle Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit enttarnt und sofort suspendiert wurden.“
Dies habe zu grotesken Situationen geführt. Kurz vor seiner Ankunft sei beispielsweise noch ein 21-jähriger Bäckerlehrling Landrat gewesen – „nur weil er als unverdächtig galt“. Doch bald stand fest, „dass ein bisschen Verwaltungsgespür nicht schlecht wäre“. Deswegen sei dann ein Kommunalpolitiker aus dem Bayreuther Raum als Landrat angeheuert worden. Ihm war Weingart als Referent direkt unterstellt.
Der Aufbauhelfer aus Main-Spessart war für alle rechtlichen Fragen zuständig. Zu seinem Aufgabengebiet zählte unter anderem die Vorbereitung der Umwandlung von „Volkseigenen Betrieben“ in privatwirtschaftliche GmbHs.
„Mitarbeiter, die am Freitag noch da waren, waren am Montag weg, weil sie als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wurden.“
Thomas Weingart erinnert sich an die häufigen Personalwechsel
Daneben sollte Weingart helfen, das vor der Wende in Klingenthal existierende Leistungszentrum für Wintersport wieder zum Leben zu erwecken. Aus dem Leistungszentrum wurde nichts. An vielen anderen Stellen, so erinnert sich Weingart, herrschte jedoch große Aufbruchstimmung. „An allen Ecken wurde gebaut. Man wollte alles so schnell wie möglich auf Weststandard bringen“. Neben der Aufbruchstimmung spürte Weingart auch den großen Umbruch, den die Wende mit sich brachte. Das Personal in der rund 80 Mitarbeiter zählenden Behörde habe häufig gewechselt.
„Mitarbeiter, die am Freitag noch da waren, waren am Montag weg, weil sie als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wurden“. Mit Ausnahme der Polizisten habe irgendwann kaum einer mehr in dem Beruf gearbeitet, den er vor der Wende gehabt habe, so Weingarts Eindruck.
Seine Hilfe in Verwaltungsfragen sei „dankbar angenommen“ worden. Teilweise habe es natürlich auch „Vorbehalte“ gegeben. Wohl auch deshalb, weil es etliche Menschen gab, die schon kurz nach der Wende fanden, dass die Verhältnisse in der ehemaligen DDR so schlecht gar nicht gewesen seien, blickt Weingart zurück. Er blieb letztendlich nur ein knappes Vierteljahr in Klingenthal. Der Aufbau einer komplett neuen Verwaltung sei dort zum Zeitpunkt seiner Rückkehr nach Karlstadt noch lange nicht abgeschlossen gewesen. Das habe auch am ständigen Widerstreit politischer und wirtschaftlicher Interessen einzelner Protagonisten des Neuaufbaus gelegen.
„Es war eine unheimlich spannende und abwechslungsreiche Zeit, eine Zeit, die ich nicht missen möchte“, sagt Weingart heute. Gleichwohl sei er froh gewesen, danach am Landratsamt Karlstadt „wieder in einer geordneten Verwaltung zu arbeiten“.
Zu den Eindrücken, die sich ihm eingeprägt haben während seines Aufenthalts, zählt Weingart die permanente Glocke aus Braunkohlerauch über der Stadt und das Gras, das mit dem Wasser aus dem Duschkopf kam, weil es keine ausreichende Trinkwasseraufbereitung gab.
Als bleibende Erinnerung hat Weingart einen Bildband über Klingenthal im Schrank stehen. Sein Abschiedsgeschenk. Seit seiner Zeit als Aufbauhelfer war Weingart nicht mehr in der Stadt an der Grenze zu Tschechien. Es habe ihn zwar mehrfach „gejuckt, mal wieder hin zu fahren“, die Erinnerung an die Fahrt über rumpelige DDR-Pisten habe ihn jedoch stets abgehalten.
Heute arbeitet der Würzburger an der Regierung von Unterfranken, wo er das Sachgebiet für Flüchtlingsbetreuung und Integration leitet. Das Landratsamt Klingenthal gibt es mittlerweile nicht mehr. Der Landkreis ging am 1. Januar 1996 im großen Vogtlandkreis auf. Kreisstadt ist heute Plauen.
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