Das nennt Hans Heilgenthal „Erholung“. Er erholt sich gewissermaßen bei der Arbeit, denn seine Arbeit ist die Musik. Mit 22 Jahren entschied sich Heilgenthal dafür, fortan von seinem Hobby zu leben. 1981, ein Jahr im Zeichen der Friedensbewegung: Ronald Reagan wird Präsident, der Rüstungswettlauf beginnt, tausende Menschen, Atomgegner und Hausbesetzer, säumen die Straßen Europas bei ihren Friedenskundgebungen. In Hofstetten packt Hans Heilgenthal seinen Rucksack. Er hat eine Entscheidung gefällt. „Ich wollte mir andere Länder anschauen, reisen, und mein großes Ziel war, von der Musik zu leben.“
Der 22-Jährige kündigt seinen Job als Finanzbeamter. Mutig. Aber nicht einfach so: „Bei der Bundeswehr hatte ich eine Herzmuskelentzündung bekommen. Das hat mein Leben verändert. Ich dachte, wenn nicht jetzt, dann nie. Vielleicht hätte ich mich ohne das nie getraut.“ Bruder Ferdinand erinnert sich: „Er ging einfach zu unserem Vater und sagte, er könne nicht sein Leben lang im Büro arbeiten. Das war für alle erst mal ein Schock.“
Heilgenthal reist von Jugendherberge zu Jugendherberge. Trompete und Gitarre begleiten ihn von Schottland bis nach Jugoslawien. Er spielt auf der Straße, in Kneipen und Restaurants. In England spielt er für Gleisarbeiter ein Ständchen: „Die haben sich gefreut.“ Die Griechen freuen sich genauso. Vor lauter Freude zerdeppern sie das Geschirr in der kleinen Taverne: „Das machen die so, wenn es ihnen gefällt.“
Die Scherben bringen Heilgenthal wohl Glück. Später. Erst muss er wieder nach Hause, um ein bisschen zu jobben: Weil er von der Musik noch nicht leben kann, arbeitet er im Wald. Aber ein Jahr später bahnt sich das Glück seinen Weg: Heilgenthal tauscht seinen Rucksack gegen einen roten VW Bus. 1982 – gerade hat Nicole mit „Ein bisschen Frieden“ den Eurovision Song Contest gewonnen – geht er auf seine erste Tour mit den Fränkischen Straßenmusikanten. Franz Berwind, der bald sein Schwager werden soll, und Steffi Zachmeier hat er auf einem Volksmusikantentreffen kennengelernt.
Zu dritt bringen sie das fränkische Liedgut unters Volk – und dem gefällt's. In Bamberg sieht der Intendant des Theaters das Trio auf der Straße und engagiert sie vom Fleck weg für eine Matinee. „Am nächsten Abend standen wir schon in dem riesigen Theater auf der Bühne“, erzählt Heilgenthal.
Während sich andere Straßenmusikanten so durchschlagen, werden die drei immer öfter von der Straße weg engagiert: Sie spielen in noblen Cafés, bei Ausstellungseröffnungen, werden für Feste und Geburtstage gebucht. Am Abend ist ihre einzige Sorge: Wo ist der nächste Baggersee zum Zelten? Manchmal übernachten sie in Wirtshäusern. „Das war einfach ein Leben im Hier und Jetzt. Wir mussten uns um nichts sorgen, nur überlegen, wo wir morgen spielen“, sagt Heilgenthal.
Gut, in Bad Kissingen vertrieb sie die Polizei von der Straße: „Die Leute waren darüber so wütend, dass sie laut schimpften. Ein richtiger Aufstand war das.“ Und ein Ausflug nach Norddeutschland brachte nicht viele neue Fans. Aber dem Erfolg tat das keinen Abbruch. „Die erste Straßentour hat so reingehauen, dass wir gleich eine feste Musikgruppe gründeten.“ Zuchmeier und Berwind wollten mit der Tour nämlich eigentlich nur ihre Einkommen als Studenten aufbessern.
Heilgenthals Entscheidung für die Musik zieht noch mehr Glück nach sich: Bei der letzten Straßentour ist bereits seine Frau Lissy dabei. Durch die Musik haben sich die beiden kennen gelernt. Das ist 1983 und Heilgenthal hat sein Ziel bereits erreicht: Er kann von der Musik leben. „Irgendwann hatten wir wegen der vielen Auftritte keine Zeit mehr für Straßentouren.“ Die Fränkischen Straßenmusikanten sind jetzt zu fünft: Heinrich Filsner ist der letzte im Bunde. Sie spielen fürs Fernsehen, nehmen CDs auf, bei der ersten Einheitsfeier 1991 treten sie in Hamburg vor 100 000 Menschen auf.
Trotz mittlerweile 120 Auftritten im Jahr ist Heilgenthal im Herz doch Straßenmusiker geblieben. „Am liebsten spiele ich heute noch ohne Verstärker und ganz nah am Publikum“, sagt der 47-Jährige. Und wer weiß, vielleicht will er ja irgendwann mal auf die Straße zurück.
Er kann's nicht lassen. Wenn Hans Heilgenthal nachdenkt, plustert er die Backen auf und stößt trompetenähnliche Klänge aus. Dödödödö. „Musik liegt in der Luft“, möchte man im Namen Dieter Thomas Hecks ausrufen. Sie liegt nicht nur, sie steht auch, und zwar in jedem Winkel von Heilgenthals „Arbeitszimmer“. Das gleicht eher einem Museum der Musikgeschichte. Was 1965 mit einer Blockflöte begann, findet hier seinen vorläufigen Höhepunkt mit mehr als 70 Instrumenten.
Wahrscheinlich hat Heilgenthal schon als kleiner Junge tief Luft geholt, die Backen aufgeplustert und losgetrötet. „Ich habe mich immer vor die Verwandtschaft gestellt und vorgesungen“, sagt der 47-Jährige. Mit sechs Jahren bekam er seine erste Blockflöte. Mit neun folgte das Tenorhorn, schließlich die Trompete und mit zwölf Jahren war Heilgenthal festes Mitglied in der Hofstettener Blaskapelle. Die sollte er später dirigieren: Mit 23 Jahren übernahm er wohl als einer der jüngsten Dirigenten weit und breit die Leitung.