Als die katholische Kirche 1999 aus der staatlichen Schwangerschaftskonfliktberatung ausstieg, ging der von Laien gegründete Verein Donum Vitae an den Start. Alle Beraterinnen der Schwangerenberatung vom Sozialdienst katholischer Frauen in Aschaffenburg entschlossen sich damals, ihren sicheren Arbeitsplatz aufzugeben und für den bis heute nicht von der Kirche anerkannten Verein zu arbeiten. Heute kommen 920 Frauen jährlich in die Beratungsstelle, die von Annabel Staab geleitet wird. 150 dieser Frauen befinden sich in einem Schwangerschaftskonflikt. Fünf Sozialpädagoginnen beziehungsweise Sozialarbeiterinnen teilen sich drei Stellen.
Frage: Haben sich die Zahlen und auch die Einstellung zu einem Schwangerschaftsabbruch in den letzten 20 Jahren verändert?
Annabel Staab: Die Anzahl der von uns beratenen Frauen allgemein hat sich nahezu verdoppelt in den vergangene Jahren. Die Beratungen im Schwangerschaftskonflikt sind hingegen zahlenmäßig tendenziell gleichbleibend. Die Einstellungen zum Schwangerschaftsabbruch sind höchst individuell. Sie haben sich in den letzten 20 Jahren nicht sonderlich verändert. Moralisch beschreiben die allermeisten Frauen durchaus das Lebensrecht des Kindes. Jedoch ist die Situation der Frauen im Schwangerschaftskonflikt geprägt von Unsicherheiten, Ängsten, Schwierigkeiten und Lebenssituationen, die ein Leben mit dem Kind unmöglich erscheinen lassen.
Wie verzweifelt erleben Sie die Frauen? Welche Rolle spielen da der Glaube und die Einstellung der katholischen Kirche, dass es nicht richtig ist, eine Schwangerschaft abzubrechen?
Staab: Die Verzweiflung der Frauen ist sehr unterschiedlich. Im Prinzip hängt sehr viel davon ab, wie die Frau ihre Situation wahrnimmt und wie sie Leben definiert. Sehr viele Frauen erleben sich in einer Dilemma-Situation. Egal, wie sie sich entscheidet, aus ihrer Sicht gibt es in diesem Moment keine gute Lösung. Wenn sie sich für das Kind entscheidet, weiß sie, dass sich ihr Leben nachhaltig ändern wird. Sie kann ihre Pläne möglicherweise nicht weiter verfolgen, die Beziehungsgefüge werden sich verändern und sie wird Verantwortung für ihr Kind übernehmen müssen. Entscheidet sie sich für den Abbruch, entscheidet sie sich gegen das Leben ihres Kindes und muss mit den Folgen dieser Entscheidung ebenso leben.

Viele Frauen thematisieren Schuld und Verantwortung als Hauptfaktoren in dieser Entscheidung . . .
Staab: Je nach persönlicher Moral oder auch religiöser Prägung sind Schuld und Verantwortung unterschiedlich stark gewichtet. Frauen mit stark geprägtem religiösem Hintergrund, gleich ob katholisch, evangelisch, muslimisch oder anderen Glaubens, erleben tendenziell auch stärkere Schuldgefühle bei einer Entscheidung gegen das Kind. Dennoch ist die Entscheidung für einen Abbruch getragen von dem momentanen Gefühl der Frau, sich das Leben mit dem Kind nicht zuzutrauen, unabhängig von Herkunft, sozialem Stand, politischer oder religiöser Prägung.
Wie regeln Sie das mit Ihrem eigenen Gewissen, wie viel eigene Emotion schwingt da mit?
Staab: Für mich ist die gesetzliche Regelung zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland einzigartig und ich bin froh, dass es sie so gibt. Dem Recht der Frau auf Entscheidung über ihren eigenen Körper und dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes wird hier versucht Rechnung zu tragen. Das Beratungsgespräch ist eine einmalige Möglichkeit für die Frau, die Situation zu reflektieren und gedanklich durchzuspielen, wie ein Leben mit dem Kind aussehen könnte, aber auch wie ein Leben nach dem Abbruch weiter gehen würde. Dieses Gespräch ergebnisoffen zu führen und der Frau einen Raum zu geben mit allen ihren Gefühlen, ist mein persönliches Anliegen. Das geht nur, wenn ich die Frau und ihre Lebenswelt respektvoll und wertschätzend annehme. Das ist für mich eine grundlegende Haltung in Beziehung zu anderen Menschen und nicht nur Ausdruck einer professionellen Rolle.
Kommen die Frauen alleine zu Ihnen oder mit Partner? Und spielt das im Gespräch eine Rolle?
Staab: Etwa zwei Drittel der Frauen kommen zum Gespräch im Schwangerschaftskonflikt alleine. Kommt der Partner mit, ist ein Dialog zwischen Mann und Frau gut möglich. Die Männer sind sich darüber im Klaren, dass die Frauen letztlich die Entscheidung treffen. Das ist für viele Männer schwer auszuhalten. Dennoch spielt die Haltung der Männer und ihre Beziehung zur Schwangeren eine große Rolle bei der Entscheidung für oder gegen das Kind.
Wie lange dauert ein Beratungsgespräch in der Regel? Reicht diese Zeit aus?
Staab: Für ein Beratungsgespräch planen wir maximal 60 bis 90 Minuten Zeit ein. Wenn die Frau oder das Paar es wünscht, können Folgegespräche in Anspruch genommen werden.
Thema Verhütung: Erleben Sie in der Beratungsstelle junge Frauen heute aufgeklärter als früher?
Staab: Einerseits ja. Die jungen Frauen haben gute Zugänge zu Informationen. Dennoch ist das Körperwissen oftmals oberflächlich. Vor allem sehr junge Frauen kommen wegen Informationen zu Verhütung nicht zu uns in die Stelle. Deshalb nutzen wir die Möglichkeit, sexualpädagogische Angebote an Schulen durchzuführen sehr gerne.
Ist die Ablehnung der Bischöfe in Bezug auf die Ausstellung eines Beratungsscheines angebracht?
Staab: Ich bin eine Befürworterin der Beratungspflicht im Schwangerschaftskonflikt. Der Schein ist lediglich ein Instrument, diese Beratung nachzuweisen. Die Möglichkeit, die Frau in dieser Situation zu erreichen, ihr Beizustehen und mit ihr zu sprechen ist für mich Praxis christlicher Nächstenliebe.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es lediglich, dass jährlich 150 Frauen in die Aschaffenburger Beratungsstelle kommen. Diese Zahl bezieht sich jedoch nur auf die Schwangerschafts-Konfliktberatung. Insgesamt lassen sich dort 920 Frauen pro Jahr beraten. Wir bitten die Ungenauigkeit zu entschuldigen.