Der verlorene Erste Weltkrieg (1914-1918) und das als demütigend empfundene Verhalten der Siegermächte hatte in Deutschland eine neue national-bodenständige und vaterlandsorientierte Ausrichtung zur Folge. Diese emotionale Bewegung wurde – sicher eher unbeabsichtigt und ungewollt – Wegbereiter der irrationalen gefährlichen Blut- und Bodenideologie des Dritten Reichs.
Alte germanisch-deutsche Sitten und Bräuche wurden neu belebt, dazu gehörte die Sonnwendfeier beziehungsweise das Kannsfeuer am Johannistag. Kannsfeuer hatte es auch vor dem Ersten Weltkrieg gegeben, aber von dem alten germanischen Volksbrauch war damals nicht mehr viel übrig geblieben. Im Grunde handelte es sich bei den Kannsfeuern lediglich um ein geselliges Beisammensein mit Volksfestcharakter. Ähnlich war die Situation Anfang der 1920er Jahre.
„Wie die Sonnwendfeier seither in Lohr verlaufen ist, ist allgemein bekannt. Schulbuben jeden Alters durchzogen einige Tage vor dem Johannistage mit einem Handkarren die Straßen und Gassen und sammelten Holz. Dieses auf diese Weise zusammengetrommelte Holz und Reisig wurde nun um eine aufgerichtete hohe Stange aufgeschichtet und dort ohne jede Zeremonie und ohne jeden Sinn, aber mit viel Geschrei angebrannt. [...] Seit der Johannistag nicht mehr als Feiertag gilt, hielt man sich nicht einmal mehr an einen bestimmten Tag. [...]“, so eine zeitgenössischen Aussage.
Daher gründeten Franz Schäfer, Cornel Schmitt, Dr. Hönlein, Nikolaus Fey und Philipp Hahmann, die damaligen Lohrer Kulturgestalter, am 26. Februar 1922 einen „Sonnwendausschuß“ zwecks Gestaltung einer schönen und einheitlichen Sonnwendfeier. Jeder der Genannten sollte dazu einen Entwurf einbringen und schließlich wurde dem Motto „Schlicht und volkstümlich“ von Cornel Schmitt, Leiter der Lohrer Präparandenschule, der Vorzug gegeben. Diese Initiative fand in Lohr großen Anklang, so dass sich die Arbeitsgemeinschaft für Volksbildung als Träger der Sonnwendfeier bereit erklärte und die erforderlichen Geldmittel zur Verfügung stellte. Nach langen Vorbereitungen wurde die Feier am 24. Juni 1922 zu einem großen Erfolg.
„Um neun Uhr vollzog sich der Sonnwendaufmarsch. Es war ein prächtiges Bild.“
Lohrer Zeitung, Juni 1922
So berichtete die Lohrer Zeitung zwei Tage später: „Als die Sonne hinter den Bergen verschwand, belebten sich die Straßen Lohrs. Aus allen Winkeln tauchte naturgeschmückte Jugend auf, die der oberen Stadt zueilte. Um neun Uhr vollzog sich der Sonnwendaufmarsch. Es war ein prächtiges Bild: Dieser Zug mit den Girlanden tragenden Mädchen, den Knaben mit ihrer Strohpuppe und ihrem geschmückten Wagen, ihren umkränzten Laternen, dem ganzen fröhlichen Jungvolk mit seinen Symbolen der grünenden in Höhezeit stehenden Natur. [...] Nur noch ein Augenblick und schon steht der Holzstoß in Flammen. Flamme empor! [...] Und dann flogen die Strohkränze in das Feuer.“
Doch nicht nur die Veranstaltung selbst war beeindruckend geraten, dem Sonnwendausschuss war es auch gelungen, alle Feuer der Umgebung einheitlich zu organisieren, so dass sie gleichzeitig mit dem Hauptfeuer in Lohr angezündet wurden, was die feierliche Wirkung verstärkte. Auch in den folgenden Jahren wurde das Kannsfeuer in dieser aufwändigen Weise begangen. Wie leicht sich ein solches Fest politisch instrumentalisieren ließ, wurde nach der Machtergreifung der Nazis deutlich. Das zeigte schon die „Zugsordnung“ für die Lohrer Sonnwendfeier 1933: Am Anfang marschierte der Fahnenträger mit Hakenkreuzfahne, dem sich Lohrer SA-Männer in Uniform anschlossen. Den Abschluss der zwölf Gruppen bildete eine Formation der Lohrer SS. Ganz auf religiöse Attribute wollten die Nazis zu dieser Zeit noch nicht verzichten, und so erklang als Schlusschoral vom Stadtturm das Lied „Johannes auserkoren“.
Es ist Ironie des Schicksals, dass am gleichen Tag, als Lohr 1922 seine „neue“ Sonnwendfeier beging, der Reichsaußenminister, Walter Rathenau, einem Attentat rechtsextremer Terroristen zum Opfer fiel. Es war wie ein warnender Fingerzeig der Geschichte. Auf der einen Seite das Aufleben völkischen Gedankenguts, auf der anderen Seite die Zunahme rechter Gewalt, beides Wegbereiter des Nationalsozialismus. Daher gerieten viele völkische Bräuche nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise in Ungnade und Vergessenheit.
Bleibt noch zu erwähnen, dass die Nazis auch ein „Wintersonnenwendfeuer“ eingeführt hatten, das aber anscheinend nur für Parteimitglieder gedacht war. In einem Artikel der Lohrer Zeitung am 22. Dezember 1938 hieß es beispielsweise: „Und wieder stand man am flammenden Holzstoß, der am Bergeshang über unserer Stadt entfacht wurde. [...] Mahnende, aufrichtende und richtungsweisende Worte sprach Kreisleiter Hedler.
Er sprach von der Kraft der Heimat, die uns, die wir an sie glauben, zu starken, kampf- und opferbereiten Menschen mache, die uns zum Sieger werden läßt über artfremden Ungeist, der uns einmal, als uns der Glaube an die Kraft der Heimat fehlte, zu übermannen drohte. Von deutscher Art, von deutschem Wesen und deutscher Frömmigkeit sprach er und gab damit der nächtlichen Feierstunde etwas besonders Weihevolles.“
Heute sind die Sonnwendfeiern, sofern sie überhaupt noch begangen werden, im Wesentlichen nur noch Vereinsfeste mit entsprechendem Bierkonsum und lautstarker Trivialmusik, nicht unähnlich den Sonnwendfeiern zu Beginn des 20. Jahrhunderts.