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Geburtstag in der Villa am Stadlersee

Lohr

Geburtstag in der Villa am Stadlersee

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    Sein Gesicht erzählt eine Geschichte: Florian Weiss
    Sein Gesicht erzählt eine Geschichte: Florian Weiss Foto: Ivo Knahn

    Sendelbach   Als "Zigeuner-Weiss" kennen ihn die Lohrer. Zigeuner gilt als Schimpfwort _ Florian Weiss mag das Wort deshalb nur hören, wenn es richtig betont wird. Florian gehört zu den Sinti und Roma. Seine Eltern steuerten einen Planwagen durch den Spessart, bis die Familie vor 50 Jahren ein Häuschen am Ortsrand von Sendelbach baute. Heute lebt Florian dort alleine, ohne fließend Wasser und ohne Strom. An diesem Sonntag hat Lohrs einziger Zigeuner Namenstag. Am Montag wird er 60 Jahre alt.

    Der Kirschbaum steht in voller Blüte, in seinen Ästen hängt zwischen bunten Ostereiern ein Rosenkranz, an dessen Kugeln Moos grün schimmert. Ein Camping-Tisch steht voller kleiner Blumentöpfe, in denen die meisten Pflanzen den Winter nicht überstanden haben. Mit dem Frühling ist blühendes Leben in neuen Töpfen zurückgekehrt. Seit Monaten steht der leere Wasser-Kasten auf der Veranda vor der Hütte. Florian-Quelle steht auf dem Etikett. Florians andere Quelle ist keine 300 Meter entfernt. Mit weißen Plastik-Kanistern holt er sich das Wasser vom Sendelbacher Friedhof, wenn nicht ein guter Mensch einen Kasten Sprudel bringt. Strom gibt es am Friedhof nicht, auch nicht in Florians Haus. Wer von Pflochsbach nach Sendelbach fährt, sieht am Fuß des Rombergs das Grau einiger Betonsteine durch die grünen Hecken schimmern. Hinter dem Grau: zwei Zimmer, jedes etwa 15 Quadratmeter groß, die Fenster sind durch Läden geschützt, weil dumme Menschen Florian gerne die Scheiben mit Steinen einwerfen. Die Tapeten hinter dem Ofen sind schwarz, der kleine Holztisch mit Kerzenwachs nahezu vollständig überzogen. Florians Vater hat das Häuschen irgendwann in den 50er Jahren ins Naturschutzgebiet Romberg gebaut. Heute ist das Gebäude geduldet. Dr. Hans Stadler, der erste Naturschutzbeauftragte Unterfrankens, hatte der Familie erlaubt zu bauen. Bis dahin war die Familie mit fünf Töchtern und zwei Söhnen auf dem Planwagen durch den Spessart gezogen. Florian, der in Lohr geboren wurde, erinnert sich an sein Schulheft, in dem Lehrer es mit einer Notiz vermerkten, wenn er den Unterricht besucht hatte. Mal in Oberndorf, mal in Rodenbach, mal in Sendelbach. Florian ist das jüngste der Geschwister. Eine Schwester ist gestorben, der Bruder ist heute Ingenieur. Die anderen Schwestern sind auch versorgt. Zwei besuchen ihn ab und an. Florian hat kräftige Arme, schmächtige Beine. Und er hat einen großen Glauben. "Ich glaube nicht. Ich bin überzeugt", sagt er. Über dem Sofa hängen Bilder von Jesus und Maria um ein Kreuz. An einem anderen Tag hängen dort Bilder anderer Heiliger, manchmal ein Foto seiner Eltern. Vor 20 Jahren war Florian in Lourdes. Eine Madonnen-Figur von dort hat er mit Aluminiumfolie überzogen. Abends glänzt die Figur im Schein der Kerzen. Florian liest die Bibel, spricht von "Lug und Trug" im Alten Testament: "Das Neue Testament ist Wahrheit." Zur Karfreitagsprozession ist er nicht gegangen. Florian winkt ab: "Gott ist überall." Er geht in die Kirche, ist aber überzeugt, dass Gott die Gewänder der Pfarrer und das Gold der Altäre nicht interessieren: "Die Kirche, weißt du, ist ein Schauspielhaus. Gott liebt die Armut." Florian lebt von Sozialhilfe. So wie 1298 andere Menschen im Landkreis Main-Spessart. Ein Autounfall in Wien hat Florian 1969 fast das Leben gekostet als er auf dem Weg zu seiner eigenen Hochzeit war: Lungenriss, Knie und Hüfte gebrochen, literweise Blut verloren. Statt die Braut wiederzusehen traf Florian im wochenlangen Koma den Teufel: "Ich habe ihm in die Augen geschaut. Ich habe gegen den Satan Armdrücken gemacht." Florian hat gewonnen, und doch verloren: "Satan hat die Seele meiner Braut gekauft." Spuren des Unfalls sind geblieben. Seit dem Unfall ist Florian stark gehbehindert, die faltige Narbe im Hals erinnert an die Sonde, die ihn ernährte. Florian war ein Vagabund, ein Zocker, mit allen Wassern gewaschen. Er war ein Spieler und ein Mensch des Lebens. "Ich habe alle Tricks gekannt." Florian ist ruhig geworden und bewegt sich heute unauffällig durch Lohrs Straßen. "Seit dem Unfall", sagt er, "habe ich eine Aufgabe. Ich lebe für Gott, damit er mir hilft meine Verlobte zu befreien." Die Polizei war früher Florians Gegenspieler. Heute kommt es vor, dass sie einen Kasten Wasser vorbeibringt. Florian trinkt keinen Alkohol, er raucht und er ist überzeugt, dass Frauen, Geld und Drogen der größte Fluch der Menschen sind. "Wenn Du Geld hast, kannst du Seelen stehlen. Und die Menschen verkaufen ihre Seelen. Deshalb macht Geld arm. Kein Geld macht reich." Florian verehrt seine Mutter, von der er ein Foto in einer durchsichtigen Plastik-Hülle an einem Goldkettchen um den Hals trägt. Das Foto ist von hinten und an den vorderen Rändern mit Aluminiumfolie bedeckt. Seine Mutter ist bei ihm, wenn er auf einer Decke im Gras sitzt und in den Reiseführern der Metropolen blättert: Prag, Paris, Wien. Sie hört ihm zu, wenn er auf seiner Veranda sitzt  und Gitarre spielt. In Knaurs Jugendlexikon von 1953 heißt es über Zigeuner: "Groß ist ihre musikalische Begabung". Und dann spielt Florian: "Ganz Paris ist voller Liebe, ganz Paris ist voll amour." Oder: "Bei mir bist du schön für eine Mark und zehn." Oder: "Oh when the saints, oh when the saints, oh when the saints go marching in". Oder "Stille Nacht, Heilige Nacht" mitten im März. Der hellblaue Rand um das Grün seiner Augen leuchtet beim Singen, Florian wird fröhlich, lacht und legt die Gitarre so plötzlich zur Seite, wie er sie in die Hände genommen hat. Das ist die Spontaneität eines Menschen, der sein eigener Herr ist. Vor Jahren kam jemand von der Stadt Lohr bei ihm in der Sendelbacher Straße, Hausnummer 99, vorbei und bot ihm an, in eine Sozialwohnung am "Südbahnhof" in Lohr zu ziehen. Ein Mann aus Karbach hat ihn jahrelang regelmäßig besucht und gefragt, ob Florian nicht kostenlos bei ihm und seiner Familie einziehen wolle. Florian hat beide Angebote abgelehnt und sagt, er habe es nicht bereut: "Ich könnte so ein Leben haben", sagt er. Dabei zieht er den Kopf nach oben, küsst die Fingerspitzen seiner rechten Hand und schickt den Kuss mit geöffneter Hand in den Himmel. Dann kommen Hand und Kopf zurück. Florian runzelt die Stirn und kneift die Augen zusammen: "Läuterung. Deshalb bleib ich hier." Rund 130#000 Sinti und Roma leben heute in Deutschland, geschätzte zwölf Millionen verteilen sich auf der ganzen Welt. Sinti und Roma sind ein Wandervolk mit Wurzeln in Indien. Ihre Geschichte lässt sich rund 1000 Jahre zurückverfolgen. Lohrs einziger Zigeuner hat Gönner. Bürgermeister Siegfried Selinger, der wie Florian 1943 geboren ist, ist einer von ihnen. Hier ein paar Schuhe, da eine Hose und sogar einen neuen Boden für Florians Hütte hat er spendiert. Aus Ägypten schickte er eine Postkarte: Villa am Stadlersee stand auf dem Adressfeld der Karte. "Dafür hab ich ihn doch gewählt", lacht Florian. Florian fragt, ist interessiert und verfolgt das Zeitgeschehen meist über das Telefunken-Radio, für das er viel zu oft keine Batterien hat. "Den Schröder mag ich nicht. Dafür den Joschka Fischer. Der läuft 'rum wie ein Penner. Das gefällt mir an einem Politiker." Florian hat Witz und er lacht mit Menschen, denen er vertraut. In Lohr gibt es davon wenige. In Kaiserslautern besucht Florian regelmäßig Schwester Ellengard, die als Franziskanerin jahrelang in Lohr im ehemaligen Frauenkloster lebte. Sie kennt Florian seit 1965, als sie Pförtnerin im Kloster war. "Als der Pfarrer von Sendelbach gesagt hat, wir sollen ihn aufnehmen, haben wir uns um ihn gekümmert." Sie wuschen Florians Kleider, er bekam täglich warmes Essen. Schwester Ellengard erinnert sich an einen wilden Florian und an einige "Polizeigeschichten". Einmal _ auch daran erinnert sich die 68-Jährige _  kam Florian und sah einen Obdachlosen bei den Schwestern sitzen. Dann hat Florian in seinen Taschen gekramt und ihm Geld gegeben. "Wenn ich geben kann, dann gebe ich", sagt Forian heute. Als das Frauenkloster 1976 aufgelöst wurde, verabschiedeten sich die Schwestern. Davor räumten sie tagelang Florians Haus auf und richteten es mit Möbeln aus dem Kloster neu ein. Bei den Behörden erreichte Schwester Ellengard, dass Florians Zukunft gesichert ist. "Die haben sich immer beschwert, dass Florian zu viel draußen herumfährt und wollten ihm deshalb den Geldhahn abdrehen." Der Kontakt zwischen Schwester und Sinto hat bis heute gehalten, Florian ist noch immer gerne unterwegs: Wenn er nach Kaiserslautern fährt, zieht er ein schneeweißes Hemd aus einem Aluminiumkoffer unterm Bett hervor und schlüpft hinein. Mit einem in die Jahre gekommenen Ledermantel und einem Hut auf dem Kopf zieht er los. Schwester Ellengard empfängt ihn nach wie vor. Jedes Mal hat Florian ein Geschenk im Gepäck. Die Schwester hat gelernt mit ihm umzugehen und kennt ihn heute so gut wie kaum ein anderer. "Der Florian", sagt sie, "der Florian ist ein guter Kerl."

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