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GEMÜNDEN: Heimat­vertriebene waren nicht willkommen

GEMÜNDEN

Heimat­vertriebene waren nicht willkommen

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    Gemeinschaft: Die Heimatvertriebenen waren sich zwar fremd, aber der Zusammenhalt war groß.
    Gemeinschaft: Die Heimatvertriebenen waren sich zwar fremd, aber der Zusammenhalt war groß. Foto: Repros (2): Historischer Verein

    Gerold Heimann weiß, wie es ist, seine Heimat zu verlieren. Der 80-jährige Gemündener musste vor 70 Jahren mit der Familie seinen Heimatort Johannaburg im Sudetenland, heute direkt an der Grenze zwischen der Tschechei und Polen, verlassen, weil die Rote Armee anrückte. Die erste Seite eines Fotoalbums zeigt Bilder des großen elterlichen Gasthauses im Sudetenland, dazu ein Foto mit einer Gruppe Kinder im Schnee, daneben er und andere auf einem Schlitten, die ältere Schwester mit Skiern. Heimann hat „zu Hause“ darunter geschrieben.

    Dann folgen Bilder des Flüchtlingslagers in Gemünden. Über mehrere Zwischenstationen gelangte die Familie 1948 in das Barackenlager auf dem ehemaligen Hamm-Gelände (heute Spedition Welzenbach). Das war kein Zuckerschlecken, Vertriebene wurden nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Aber Heimann blickt nicht im Zorn zurück. „Schlechte Zeiten vergisst man schnell“, sagt er.

    Was die Flüchtlinge aus dem Sudetenland und Böhmen im Lager erwartete? Der 80-Jährige zeigt ein Bild, etwa vom Ostring aus fotografiert. Es zeigt eine Handvoll lange Holzbaracken nebeneinander. Darin wohnten jeweils rund 50 Flüchtlinge. Zwischenwände gab es keine; Betttücher schafften notdürftig Privatsphäre. Es gab einen langen Gang mit Tischen, links und rechts standen Stockbetten. Viel Platz war nicht, andererseits hatten die Heimatvertriebenen kaum Habseligkeiten. Mit „Köfferle und Decke“ seien die Heimanns einst holterdiepolter losgezogen. Die Furcht vor den Russen war groß, zumal der Saal des Gasthauses als Panzerwerkstatt gedient hatte und der Vater bei der SS war.

    Als illegale Grenzgänger gelangten sie nach Aufenthalten in Flüchtlingslagern 1948 nach Westdeutschland. Sein Vater, ein Schreiner, schaffte es, die Familie nach Gemünden zu bringen, weil dort neben dem Lager ein Sägewerk stand. Tatsächlich machte er eine eigene Schreinerei auf, dazu die Lagerkantine. Die sanitären Verhältnisse waren abenteuerlich: Es gab eine Waschbaracke und eine Klobaracke, ebenfalls ohne Zwischenwände. „Das hat mit Toiletten nix zu tun gehabt“, sagt Heimann. Irgendwann wurden in den Wohnbaracken Zwischenwände eingezogen, jede Familie erhielt einen Holzherd und konnte selbst kochen. Vorher hatte es eine große Gemeinschaftsküche gegeben, wo die Bewohner ein Gericht für alle kochten.

    Das Leben im Flüchtlingslager hatte auch schöne Seiten: Das Gemeinschaftsgefühl war groß. Bilder in Heimanns Fotoalbum zeigen etwa gesellige Abende und Faschingsfeiern. Die Flüchtlinge gründeten einen Kegelklub mit eigener Bahn. Wenn die Pachners ihre Musikinstrumente hervorholten, wurde auf den Wegen zwischen den Baracken getanzt.

    „Es war schon happig.“ So drückt es der 80-Jährige aus, wenn man ihn danach fragt, wie die Flüchtlinge in Gemünden aufgenommen wurden. Aber er hat Verständnis: „Das war eine sehr arme Gegend hier.“ Sein Vater betrieb zwei Jahre lang einen Ausschank auf der Scherenburg, er hätte die Burg gerne gekauft. Im Stadtrat habe es jedoch geheißen: „Wie kann denn ein Flüchtling die Burg kaufen? Der sperrt uns das Tor zu und wir können nicht mehr nauf.“

    Unter Gleichaltrigen hat Gerold Heimann als Flüchtlingskind nichts erfahren, was man heute als Mobbing bezeichnen würde. „Es war eher Bahnhofsviertel gegen Stadt“, erzählt er schmunzelnd. In der Schule machte er eine interessante Erfahrung, die man in Bayern sicher nicht gerne hört: „Wir waren schulmäßig bedeutend weiter als die hier.

    “ Zwei Klassen habe er übersprungen, musste so nur sechs Jahre zur Schule gehen. Auch wirtschaftlich sei das Sudetenland weiter gewesen als Unterfranken, die Handwerker hätten viel mehr drauf gehabt, was er damit begründet, dass die Deutschen im Sudetenland gezwungen waren, als Handwerker zu arbeiten, da Beamtenstellen Tschechen vorbehalten waren.

    Sein Vater fasste als Schreiner schnell Fuß. Jahrelang war er der Hausschreiner am Kloster. Heimann erzählt, dass die Mädchen oft wild waren und Dinge beschädigten, sodass sie beinahe wöchentlich zum Richten kommen mussten. Das erste Auto, einen VW-Käfer, kaufte die Familie 1964. Vorher wurden Möbel mit Handwagen transportiert – etwa über den Zollberg nach Rieneck.

    1952, mit dem Ende des Lagers, wurden für die Flüchtlinge im Grautal Häuser gebaut, oder sie bauten selbst. Andere aus dem Lager erschlossen den Spessartweg auf eigene Faust. Die Heimanns, erzählt Sohn Gerold, mischten allen Beton damals per Hand. Auch der Sohn lernte Schreiner, ist aber auch in anderen Bereichen handwerklich geschickt. Über sein Haus im Rhönweg sagt er: „Es gibt nichts, was ich nicht gemacht hätte im Haus.“ – Kachelofen setzen, Fliesen oder elektrische Leitungen legen. Als Flüchtling musste man lernen, sich durchzuschlagen.

    1987 oder 1988 war Heimann mit Onkel und Tante noch einmal im Heimatort im heutigen Tschechien. Vom Gasthaus stehen noch einige Grundmauern, die anderen Häuser wurden abgerissen. Direkt vor dem Gasthaus verlief die Grenze, statt Häusern stand dort ein Wachturm. Etwa 5000 Mark habe die Familie für Grundstück und Gasthaus erhalten. Ob ihm die alte Heimat fehlt? Heimann zuckt mit den Achseln. Er ist längst Gemündener geworden, auch wenn man an dem leichten Einschlag in der Sprache das Sudetenland noch heraushört.

    Heimatvertriebene im Landkreis Gemünden

    Das Barackenlager auf dem Gelände der Firma Gebrüder Hamm bestand nach Auskunft des Gemündener Ferdinand Herrbach schon während des Krieges. 1942 seien dort polnische Kriegsgefangene untergebracht gewesen, nach dem Krieg zunächst deutsche Kriegsgefangene. Ab Dezember 1945, so hat es Heimatpfleger Bruno Schneider recherchiert, kamen im Lager aus Holzbaracken Flüchtlinge und Heimatvertriebene unter.

    1360 Quadratmeter groß war das Gemündener Lager und hatte 89 Räume mit 273 Betten. Es gab außerdem Lager in Rieneck und in Höllrich. Nachdem im Grautal 1952 40 Wohneinheiten geschaffen worden waren, wurde das Lager aufgelöst und schließlich abgerissen. Die Flüchtlingslager sollten nur als Zwischenstation dienen, bevor die Heimatvertriebenen auf die Dörfer des Landkreises Gemünden verteilt wurden. Die Kreisbevölkerung, so Schneider, stieg wegen der Zuwanderung von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen bis 1950 sprunghaft um 25 Prozent auf 21 581 Einwohner an.

    Die Vielzahl der Flüchtlinge überforderte die Orte völlig, das zeigen Zahlen, die Schneider recherchiert hat. So hatte 1946 zum Beispiel die 614 Einwohner zählende Gemeinde Fellen 295 Neubürger aus Böhmen und Schlesien aufzunehmen. In Schaippach verdoppelte sich die Zahl der Einwohner, vor allem durch die Flüchtlinge, gar auf 420. Weil der Landkreis darauf nicht vorbereitet war und Arbeitsplätze fehlten, wanderten viele der Zugewanderten in die Ballungszentren ab. In Gemünden ließen sich Flüchtlinge vor allem im Grautal, im Spessartweg und später in der Annastraße nieder.

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