Seine 87 Jahre sieht man dem Oberlehrer im Ruhestand Ferdinand Otter nicht an, aber sein 87. Geburtstag am 9. Februar dieses Jahres, den er in seiner zweiten Heimat beging, war für Dr. Lászlo Sóvágó, den Bürgermeister von Hajdúszobosló Anlass, ihm eine Ehrenurkunde zu überreichen. Nicht deshalb, weil er seit vielen Jahren einer der häufigsten Badegäste in diesem Kurort in der Nähe von Debreczin ist, sondern weil man ihm über ein halbes Jahrhundert hinweg nicht vergessen hat, dass er im Krieg Mut und Menschlichkeit bewiesen hat.
Im September 1944 kam er als Leutnant, erstmals nach Hajdúszobosló. Die Russen hatten ihre große Gegenoffensive gegen die Wehrmacht begonnen. Otter wurde zusammen mit seiner Fliegereinheit aus Rumänien nach Ungarn verlegt, das mit dem Deutschen Reich verbündet war. Er hatte den Auftrag, die Einheit zu führen. Er war damals häufig bei einer Familie Molnár zu Gast. Die Frau stammte aus Wien und der Mann diente der deutschen Einheit als Dolmetscher. Es entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung.
Am Abend des 8. Oktober 1944, so erinnert sich Otter, war er wieder bei der Familie Molnár, als ein Infanteriegeneral erschien und die Anwesenden darauf aufmerksam machte, dass die Rote Armee nur noch acht Kilometer vor der Stadt stand. Er bot der Frau des Hausherrn, die als Österreicherin deutsche Staatsbürgerin war, an, sie in Sicherheit zu bringen. Im gleichen Moment erschien aber ein Flieger-Oberst und bot ihr an, sie auszufliegen, was ihr sicherer erschien.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht kehrte Leutnant Otter in sein Quartier zurück, in dem Gefühl, dass in der Nacht Entscheidendes geschehen werde.
Nacht der Entscheidung
Er legte sich angezogen auf sein Lager und wurde in den frühen Morgenstunden durch heftigen Artilleriebeschuss auf die Stadt geweckt. Er alarmierte sofort die Piloten. Man erreichte ohne größere Probleme den Flugplatz.
Die Maschinen waren startbereit, aber rund um die Flugzeuge drängten sich verzweifelte Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder, viele im Nachthemd, mit der Bitte, sie aus der Stadt auszufliegen, der Eroberung und Zerstörung drohten.
Zwar war es verboten, in den Militärmaschinen Zivilisten zu befördern, aber in dieser Stunde der Not stellte der junge Offizier Otter die Menschlichkeit über den Befehl und ordnete an, so viele Zivilisten mitzunehmen, wie möglich war, ohne die Sicherheit der Maschinen zu gefährden. Die Zeit drängte, denn schon hatten die russischen Panzer den Flugplatz umstellt. Die Piloten konnten in dieser Situation nur gegeneinander starten, was recht gefährlich war. Aber die Flieger hatten Glück. Keine Maschine wurde getroffen.
Otter gab seinen 22 Fliegern den Befehl: "Richtung Westen - Wiener Neustadt". Dort landeten sie auch samt ihren Passagieren. Die Mannschaft auf dem dortigen Flugplatz wird wohl nicht schlecht gestaunt haben, als aus den Militärflugzeugen die Frauen in den Nachthemden kletterten.
In Otters Einheit dienten auch einige ungarische Flieger. Beim Rückzug verlor er ihre Spur.
Nach dem Krieg war er als Lehrer in Steinfeld und an der Lohrer Berufsschule tätig.
In der Zeit, in der Ungarn zum Ostblock gehörte, war es ihm auch nicht möglich, an die alten Kontakte wieder anzuknüpfen, aber 1990, der "Eiserne Vorhang" war kaum gefallen, kehrte er nach Hajdúszobosló zurück - und seitdem jedes Jahr. Er feiert gerne mit seinen alten Freunden und Bekannten.
Titelsüchtige Ungarn
Einige ungarische Zeitungen sind schon auf Ferdinand Otter aufmerksam geworden und haben über ihn berichtet, ihn interviewt. In den Berichten sei allerdings etwas übertrieben worden, meint er bescheiden. So machten die Ungarn aus seinen Transportmaschinen "Kampfflugzeuge" und der Oberlehrer a. D. avancierte zum pensionierten "Professor". "Die Ungarn", lächelt er, "sind halt etwas titelsüchtig."