Ein weiterer Höhepunkt im Rahmen des 1200. Jubiläums fand im Historischen Rathaus in Retzbach statt. Retzbacher Laientheaterspieler begaben sich zurück in die Geschichte des Dorfes und folgten dort den Spuren des 1872 in Tiefenstockheim geborenen „Ludwig Brügel – ein rebellischer Retzbacher Bürger?“. Das Dokumentationstheater in sechs Akten brachte dem Publikum das Leben und die Handlungen des Schmiedes näher.
Um 1900 zieht ein tatkräftiger und eigenwilliger Schmied namens Ludwig Brügel in das historische Retzbach. Brügel, ein Mann der schon viel von der Welt gesehen hat und sowohl literarisch als auch politisch interessiert ist, mischt schon bald das Dorfleben auf. Die Politik des Bürgermeisters verfolgt er kritisch, und mit seinen sozialdemokratischen Ideen eckt er bei vielen Bürgern an.
Deswegen lässt er sich aber nicht von seiner Überzeugung abbringen. Im Gegenteil, er entwickelt sich zu einem Verfechter der Arbeiterrechte, zu einem Kritiker der „Machtclique“ in Retzbach und einem leidenschaftlichen Dichter. Mit seinen Spottliedern erregt er vor allem eines: Aufmerksamkeit.
Die Darsteller schlüpften in die Rollen des Ludwig Brügel, eines Retzbacher Gemeinderates und des gemeinen Volkes. Trotz der engen Platzverhältnisse innerhalb des Historischen Rathauses wurde das minimalistische Bühnenbild ideal in Szene gesetzt.
Mit Original-Gedichten von Ludwig Brügel und Liedern, die vom in ganz Retzbach bekannten Musiker Albrecht Ziegler auf seinen Akkordeon vorgetragen wurden, schafften es die Theaterleute, nicht nur einen historischen Bezug herzustellen, sondern auch das Stück mit Leben zu füllen. So wurde geschickt eine Brücke zwischen Information und Unterhaltung geschlagen.
Stimmen aus dem Off
Die anfänglichen Verständigungsschwierigkeiten und Unsicherheiten seitens der Darsteller verflogen schnell und wichen einem ausdrucksstarkem Auftreten der Schauspieler. Besonders Gerd Schneider in seiner Rolle als Ludwig Brügel überzeugte auf ganzer Linie. Über seine Mimik, Gestik und Sprache skizzierte er glaubhaft die Persönlichkeit des rebellischen Retzbachers. Auch von der Unterstützung durch Wolfgang Tröster, der schon bei zahlreichen Theaterstücken in der Region federführend war, profitierte die Inszenierung.
Der bewusste und passende Einsatz von theaterästhetischen Mitteln, wie Stimmen aus dem Off, Schreibmaschinen- und Telefoneffekte und über einen Beamer an die Wand gestrahlte historische Aufnahmen, verstärkten die Wirkung auf den Zuschauer ungemein.
Insgesamt steigerte sich das Stück kontinuierlich in Sachen Qualität und Spannung. Gerade der fünfte Akt, der die Folgen des Nationalsozialismus für Ludwig Brügel beschrieb, beeindruckte sehr. Während der Schmied hoffnungslos und mit leerem Blick auf der Bühne verharrte, wurden hinter der Bühne Briefwechsel zwischen Politikern und Gestapo, Anklageschriften und Telefonate verlesen. Zu sehen waren die kommunizierenden Personen nie. Lediglich ihr Schatten war über eine weiße Leinwand zu sehen.
Der Inhalt dieser Schriften und die Folgen für Ludwig Brügel waren für den Zuschauer nur schwer zu begreifen und lösten tiefe Betroffenheit im Zuschauerraum aus. Letztlich waren seine kritischen Publikationen und öffentlichen Beschwerden ausschlaggebend für seine Einweisung in die Pflegeanstalt Lohr, wo er am 8. Oktober 1944 starb.
Das Stück, das ursprünglich eine Lesung werden sollte, brauchte ein gutes Jahr Vorbereitung, sagte Sofie Rothaug, die gemeinsam mit Wolfgang Rupp bei den Texten federführend war. Eine große Herausforderung sei es gewesen, trotz des Wustes an Informationen einen roten Faden zu entwickeln. Vor allem die Enkelin von Ludwig Brügel, Ursula Heyer, die bei der Premiere anwesend war, leistete einen enormen Beitrag, indem sie persönliche Korrespondenz ihrer Großeltern und Unterlagen zur Verfügung stellte.
Keine Wiedergutmachung
Besonders ergreifend waren ihre Schilderungen über die Zeit nach dem Tod ihres Großvaters. So habe die Ehefrau des Verstorbenen, ihre Großmutter, jahrelang versucht eine Wiedergutmachung des durch das NS-Regime verursachten Unrechts zu erreichen. Das wurde aber, genauso wie ihr Antrag die angebliche Geisteskrankheit ihres Mannes für nichtig zu erklären, bis zu ihrem Tod abgelehnt.
Die Autoren sind Sofie Rothaug, Wolfgang Rupp und Wolfgang Tröster. Die Darsteller und Erzähler sind Sofie Rothaug, Wolfgang Rupp, Fritz Babinsky, Ingrid Babinsky, Thomas Heßdörfer, Helga Nottka, Gerd Schneider und Albrecht Ziegler (Musik).