Was der vor 100 Jahren gestorbene Wilhelm Busch 1865 als „Bubengeschichte in sieben Streichen“ veröffentlichte, würde einem heutigen Staatsanwalt zu einer dicken Anklageschrift reichen. Jugendrichter Günter Herrbach befasste sich auf Bitten der MAIN-POST mit den Untaten. Was würde mit Max und Moritz heute passieren, ist das Jugendstrafrecht zu lasch?
Grundsätzlich hält Herrbach den gültigen Strafkatalog für ausreichend. Schließlich könne der Wunsch nach Vergeltung – Max und Moritz werden bei Busch in Selbstjustiz getötet – nicht der alleinige Maßstab sein, vielmehr muss es Ziel des Jugendstrafrechts sein, nachhaltig bessernd auf die jungen Täter einzuwirken. „Sie brauchen eine Sozialisierung, weil sie offenbar noch nie sozialisiert worden sind.“
Sinnvolle Änderungen der Gesetze sind für den 54-jährigen Richter „diskutierbar“. Beispielsweise Arreste oder Arbeitsstunden für unter 14-Jährige, wie sie Gemündens Stadtjugendpfleger Dr. Harald Seubert für wünschenswert hält. Wenn Jugendstrafen gegen Jugendliche verhängt werden, haben sie in der Regel vorher schon „Warnschüsse“ bekommen, erläutert der Richter. Die waren aber offenbar nicht wirkungsvoll.
Straftäter unter 14 Jahren blieben bislang ohne strafrechtliche Ahndung; bei ihnen können nur „erzieherische Maßnahmen“ der staatlichen Jugendhilfe verhängt werden. Deren Erfolg aber, weiß Günter Herrbach, hängt entscheidend von der Mitwirkung der Eltern ab. Und: Funktioniert die elterliche Erziehung, kommt der Nachwuchs erst gar nicht auf dumme Gedanken.
Zu viel Freiraum für Unfug
Über die Eltern von Max und Moritz berichtet Wilhelm Busch nichts. Klar ist nur, sie lassen ihren Sprösslingen offenbar (zu) viel Freiraum. Für die strafrechtliche Würdigung nehmen wir an, diese bösen Buben seien bereits 14 Jahre alt und fallen damit unters Jugendstrafrecht.
Dieses ist der erste Streich: Max und Moritz töten die vier Hühner der Witwe Bolte („Meines Lebens schönster Traum hängt an diesem Apfelbaum.“). Der Fall ist für Günter Herrbach klar: Sachbeschädigung. Drei Formen der Strafe stehen dem Jugendrichter zur Verfügung: die Erziehungsmaßregel (Arbeitsstunden), das Zuchtmittel (Arrest bis vier Wochen) und die Jugendstrafe (Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren). Da die Lausbuben Ersttäter sind, würde ihnen Herrbach Arbeitsstunden, die mildeste Ahndung, aufbrummen: „Sie könnten bei der Witwe Bolte Gras mähen oder sowas.“
Im zweiten Streich stehlen Max und Moritz der Witwe die zuvor gemeuchelten Hühner, die sie sich soeben gebraten hat. Da diese Tat in der zeitlichen Abfolge mit der ersten unmittelbar zusammenhängt, wären Max und Moritz immer noch Ersttäter. Der Hühnermord wäre nur ein Nebensachverhalt, der Diebstahl wiegt schwerer. Noch hat Richter Herrbach Hoffnung, den beiden Bengeln erfolgreich ins Gewissen zu reden – er belässt es bei Arbeitsstunden: „Sie müssen der Witwe zur Hand gehen, ihr zum Beispiel das Obst einholen helfen.“
Im dritten Streich sägen Max und Moritz vor Schneider Böcks Haus „Ritzeratze! voller Tücke, In die Brücke eine Lücke“. Der Schneider bricht ein und landet im Bach. Diese Tat wiegt juristisch erheblich schwerer als die vorhergehenden, „weil sie auf den Körper geht. Böck ist an der Gesundheit geschädigt.“ Die beiden Buben zeigen „kriminelle Energie“, urteilt Günter Herrbach. Zu werten ist der Streich als Körperverletzung und, da die Täter zu zweit waren, auf jeden Fall als gefährliche Körperverletzung. „Da könnte man über einen Arrest nachdenken: vier Tage Kurzarrest.“
Der vierte Streich zählt als die „erheblichste Straftat“. Lehrer Lämpel ist das Opfer. Ihm stopfen Max und Moritz die Pfeife mit Schießpulver – Lämpel erleidet eine „lebensgefährliche Behandlung“, wie es im Juristendeutsch heißt. Glücklicherweise überlebt er die Explosion. Die Anklage könnte auf gefährliche Körperverletzung lauten. Dies ist auf jeden Fall eine „Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung – und eine solche liegt sicherlich vor“, stellt der Jugendrichter fest. Hinzu kommt, dass die Buben wieder gemeinsam handelten. Sollte Lämpel dauerhaft entstellt sein, würde Max und Moritz – wären sie Erwachsene – mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe drohen. Immerhin hält der Jugendrichter ihnen zugute, dass sie die Wirkung ihres Tuns als Jugendliche nicht richtig abschätzen konnten und daher wohl keinen Vorsatz hatten.
Der fünfte Streich bleibt straflos, da es sich um einen echten Scherz handelt. Dem Onkel Fritz stecken die Bengel Maikäfer unter die Bettdecke, „und den Onkel voller Grausen sieht man aus dem Bette sausen.“ Mehr passiert nicht; Onkel Fritz wird der Käferplage Herr.
Im sechsten Streich wollen Max und Moritz in einer Bäckerei Brezeln stehlen, fallen aber in einen Trog mit Kuchenteig und werden vom Bäcker gebacken. „Jeder denkt, die sind perdü! Aber nein – noch leben sie. Knusper, Knasper! – wie zwei Mäuse Fressen sie durch das Gehäuse.“ Es handelt sich um versuchten Diebstahl, befindet Richter Herrbach, gleichzusetzen einem Ladendiebstahl an der untersten Grenze. „Dass sie sich frei fressen, ist wohl straffrei.“ Wären Max und Moritz Ersttäter, könnte es der Jugendrichter bei einer Ermahnung belassen. Auch gemeinnützige Arbeit käme als Ahndung in Betracht. „Eventuell reicht eine Belehrung durch die Eltern. Man müsste ihnen nachdrücklich klar machen, dass so etwas gegen die Rechtsordnung verstößt.“
Mit dem siebten Streich erfüllt sich das Schicksal der Übeltäter: „Max und Moritz, wehe euch! Jetzt kommt euer letzter Streich!“ Sie schneiden Löcher in Getreidesäcke, werden von Bauer Mecke ertappt und in der Mühle zermahlen. „Eine unverhältnismäßige Strafe“ für die Sachbeschädigung, wie Günter Herrbach schmunzelnd befindet. Er hätte den beiden – vorausgesetzt, sie sind Ersttäter – eine Erziehungsmaßnahme verordnet: Dem Bauern Säcke tragen, wäre angemessen.
Sanktionen der Eltern
Erziehungsmaßnahmen der Eltern sind übrigens vom Gericht zu berücksichtigen. Gibt es vom Elternhaus eine wirkungsvolle Sanktion gegen den jugendlichen Straftäter, kann der Staatsanwalt oder der Richter das Verfahren einstellen. Bei Max und Moritz aber hat das Elternhaus versagt. Das unselige Ende wäre ihnen womöglich erspart geblieben, wären sie in Richter Herrbachs Hände geraten.