Hinter Willy Winkler liegt ein wahrhaft außergewöhnliches Berufsleben: In einem Alter, in dem andere in den Ruhestand gehen, hat er seine zweite Karriere begonnen. Mit 65 Jahren fing er 1986 bei der Marktheidenfelder Bettenfirma Johann Emmerich GmbH in der Auszeichnung an. Seine Aufgabe war es, die Waren mit Preisschildern zu versehen. Schätzungsweise 500 000 Produkte hat er seither mit Etiketten beklebt.
Karl Ludwig Stahl, der damals die Geschäfte des Traditionsunternehmens führte und heute Seniorchef ist, hatte Willy seinerzeit gefragt, ob er nicht bei ihm einsteigen wollte. Für Willy war es eine Ehrensache, seinem Schwager unter die Arme zu greifen. „Wir sind immer gut miteinander ausgekommen und ich habe ihm geholfen, wo immer ich konnte“, sagt er.
Es war nicht das erste Mal, dass Willys Unterstützung gefragt war: Schon 1972, als die Geschäftsräume in der Brückenstraße von 150 auf 750 Quadratmeter ausgebaut wurden, hatte er mit angepackt. 1993 erlebte Willy den zweiten Umbau, dann schon als Angestellter mit eigener Lohnsteuerkarte: Damals wurden die Räume teilweise verlagert, damit die Arbeitsabläufe besser vonstatten gehen.
Durchschnittlich zwei Stunden pro Tag war „Onkel Willy“, wie ihn der jetzige Chef Ulrich Stahl stets nennt, für die Firma im Einsatz. Feste Arbeitszeiten hatte er nicht, er hatte einen Zentralschlüssel und konnte kommen und gehen, wie es in seinen Terminplan passte. Willy war jedoch mehr als „nur“ der Mann aus dem Wareneingang, er war aufgrund seiner Lebenserfahrung auch so etwas wie die moralische Stütze für seine jungen Kollegen.
Wer eine derart filigrane Tätigkeit verrichtet, braucht eine ruhige Hand und gute Augen. Beides sind Eigenschaften, die Willy auszeichnen – und das auch noch im hohen Alter. Am 4. Juli wird er 90 Jahre alt. „Ich bin noch verhältnismäßig fit“, sagt er. Lesen kann er noch ohne größere Einschränkungen und auch den Fernseher schaltet er gerne an. Sport und Politik interessieren ihn am meisten. Als Fußballfan schlägt sein Herz für den VfB Stuttgart, „auch wenn ich da momentan nicht ganz so viel Grund zur Freude habe“, sagt er und schmunzelt.
Dass Willy dem VfB die Daumen drückt, liegt an seiner Herkunft. Bevor er 1956 nach Hafenlohr zog, lebte er auf der Schwäbischen Alb, in „Schwäbisch Sibirien“, wie er es nennt. Sein Arbeitgeber, der Gartengerätehersteller Gutbrod, hatte seinen Sitz zwar in Bübingen, einem Stadtteil von Saarbrücken. Da Willy aber als Bezirksverkaufsleiter im Außendienst tätig war, war der ferne Wohnort nie ein Problem.
Seine Frau Elisabeth, eine geborene Bronner, lernte Willy in Wendlingen am Neckar kennen. Elisabeth war in Baden-Württemberg aufgewachsen, mit der Familie dann aber im Alter von 16 Jahren nach Hafenlohr gezogen, weil ihr Vater Eugen Bronner Betriebsleiter beim Kindermöbelhersteller Paidi wurde. Als Elisabeth in Wendlingen eine Freundin besuchte, begegnete sie Willy zum ersten Mal. Mit Elisabeth hat Willy drei Kinder und sechs Enkel – „auf die Urenkel warten wir noch“, sagt er und lacht.
Rückkehr ins „Ländle“
Nach 25 Jahren in Diensten der Firma Emmerich hat Willy dem Landkreis Main-Spessart den Rücken gekehrt und ist zurück ins „Ländle“ gezogen. Sein neues Zuhause ist bei seinem Sohn Hans Winkler in Maichingen, einem Stadtteil von Sindelfingen. Als „echter Rentner“, wie sich Willy jetzt bezeichnet, ist er dort seiner Frau Elisabeth ganz nahe. Sie lebt inzwischen in einem Pflegeheim, wo Willy sie täglich besucht.
Am Mittwochabend wurde Willy Winkler bei einer Feier im Marktheidenfelder Hotel-Gasthof „Zur schönen Aussicht“ für seine 25-jährige Betriebszugehörigkeit ausgezeichnet – und zugleich so verabschiedet, wie es einer einzigartigen Persönlichkeit wie ihm gebührt.
Außer „Onkel Willy“ ehrte Geschäftsführer Ulrich Stahl noch zwei weitere treue Mitarbeiter: Michaela Fertig (Birkenfeld) für 25 Jahre und Irina Geeb (Marktheidenfeld) für zehn Jahre.