Keine Gemeinde im Landkreis Main-Spessart hat in den vergangenen zehn Jahren anteilig mehr Einwohner verloren als Mittelsinn. Hatte das Sinngrunddorf 2001 noch 967 Einwohner, so zählte es im vergangenen Jahr nur noch 847. Dabei steht der Ort noch gut da, meint Mittelsinns Bürgermeister Peter Paul: Es gibt einen Arzt, zwei Bäcker, einen Metzger, zwei Gasthäuser, nahezu keine Leerstände und das Vereinsleben ist aktiv – noch.
Warum schrumpft Mittelsinn, wie wirkt sich das aus und wie kann gegengesteuert werden?
Mittelsinn hat, wie fast jedes Dorf, mit sinkenden Geburtenraten zu kämpfen. 2010 war der Tiefpunkt erreicht, als es gerade mal eine einzige Geburt gab. Und das auch nur, weil es eine Frühgeburt gewesen sei, sagt Bürgermeister Paul. Obendrein ziehen junge Leute häufig aus Mittelsinn weg. Das „Grundübel“ sei, so Paul, dass die Gemeinde der heute immer besser ausgebildeten Jugend keine Arbeitsplätze zu bieten habe.
Philipp Kuhn ist womöglich so ein Fall. Er ist 22 Jahre alt, leitet den Posaunenchor und lebt gern in Mittelsinn. Zurzeit besucht er die Technikerschule. Ob er nächstes Jahr, wenn er mit dem Techniker fertig ist, noch in Mittelsinn lebt, weiß er nicht. Das komme darauf an, wo er eine Arbeit finde. Aus seiner Sicht fehlen große Betriebe und eine Autobahnanbindung.
Die „bescheidene Straßeninfrastruktur“ mit den Nadelöhren Rieneck und Gemünden sieht auch Paul als Nachteil. Neben Arbeitsplätzen suchten junge Leute heutzutage auch Abwechslung – „Action“, sagt Paul –, die Mittelsinn nun mal nicht bieten könne. Die Pfunde des „Christbaumdorfs“ sind eher Natur, Ruhe, günstige Wohnmöglichkeiten und auch der Bahnhof.
Ein weiteres Phänomen unserer Zeit habe dem Ort zuletzt zu schaffen gemacht. Wegen dreier Trennungen von Eheleuten oder Partnern habe Mittelsinn in einem Jahr zwölf Einwohner verloren. In allen drei Fällen seien Mütter mit ihren Kindern weggezogen.
Ein Verlust von 120 Einwohnern in zehn Jahren geht nicht spurlos an einem kleinen Ort vorüber. Beispielsweise ist der Kindergarten nur schwach ausgelastet. Das könne immerhin zum Teil dadurch ausgeglichen werden, dass es jetzt eine Betreuung für Kinder ab einem Jahr und eine für Schulkinder gebe, sagt Paul. Eine Grundschule hat Mittelsinn schon seit Jahren nicht mehr.
Auch die Gemeindefinanzen leiden. Weniger arbeitende Einwohner bedeuten weniger Einkommensteuer für Mittelsinn, die Paul als „unser finanzielles Rückgrat“ bezeichnet. Die gut Ausgebildeten ziehen weg, dabei wären sie die eigentlichen „Devisenbringer“ für den Ort. Und Geld hat die Gemeinde nötig, da die Unterhaltskosten für die Wasser- und Stromversorgung sowie für das Kanalnetz ja gleich blieben, sagt Paul. Bei im Moment noch 1000 Euro Schulden pro Kopf sieht Paul deshalb noch einen Spielraum von nur noch fünf Jahren für Investitionen.
Der TV Mittelsinn hatte 2006/07 zum letzten Mal eine eigene erste Fußball-Herrenmannschaft. Waren es Anfang der 1990er 30 bis 40 Nachwuchsspieler, sind es jetzt nur noch zehn, sagt TVM-Vorsitzender Werner Fischer. Bei den Herren wie in der Jugend mussten Spielvereinigungen mit Nachbarvereinen gegründet werden. Bei der Feuerwehr „läuft's in der Jugend noch gut“, sagt Vorsitzender Hans-Ekkehard Rösch. Nur wenn die Jugendlichen in die Ausbildung kommen oder zum Studieren weggehen, wird es schwierig. „Das wird ein Problem“, fürchtet Rösch.
Leerstände wie in anderen Orten seien in Mittelsinn eigentlich kein Problem – noch nicht. Wegzügler behielten ihre Wohnung oft noch als Altersruhesitz. „Wir haben sogar eine Wohnungsnot“, sagt Paul. So musste kürzlich sogar jemand abgewiesen werden, weil nichts frei war. Wenn jemand nach Mittelsinn zieht, dann sind es häufig Rentner oder Jäger, die sich ein Haus als Wochenenddomizil leisten.
Was tut Mittelsinn, um attraktiver zu werden? Für jedes Neugeborene gibt es 300 Euro „Startgeld“. In der Kinderkrippe werden jetzt auch die Kleinsten betreut. Bis Ende des Jahres soll der DSL-Ausbau fertig sein. Im Gewerbegebiet gibt es Freiflächen – nur fast kein Gewerbe. Paul hofft außerdem darauf, dass es mit der Umgehung in Rieneck bald etwas wird.
Derweil muss sich die Gemeinde auf seine immer älter werdenden Bürger einstellen: Kommunale Gebäude müssen barrierefrei gebaut werden, mit der Aktion „helfende Hand“ haben es Mittelsinner Bürger selbst in die Hand genommen, Senioren bei alltäglichen Problemen zu helfen. Paul denkt über ein Mehrgenerationenhaus nach. Doch die Aussichten sind düster: Gemäß einer vom Landratsamt veröffentlichten Studie soll Mittelsinn bis 2035 auf eine Einwohnerzahl von 629 sinken.
In Fellen und vor allem Obersinn ist die Situation ähnlich schlecht wie in Mittelsinn. Am besten kam im Sinngrund in den letzten zehn Jahren neben Rieneck und Burgsinn Aura weg. Auras Bürgermeister Wolfgang Blum kann sich das nicht genau erklären, weiß aber, dass der Altersdurchschnitt niedriger ist als etwa in Obersinn. Eine „super Sache“ sei, dass Aura zusammen mit Fellen seine Grundschule halten konnte. Und im kleinen Ortsteil Deutelbach ist die Einwohnerzahl zuletzt sogar gestiegen, fünf junge Familien haben dort gebaut, erklärt Bürgermeister Wolfgang Blum.
Die Lage in Obersinn
Eigentlich noch dramatischer als in Mittelsinn ist die Lage in Obersinn. Auf die letzten 30 Jahre gerechnet hatte Obersinn einen Bevölkerungsschwund von 20 Prozent. Waren es vor 30 Jahren noch 1236 Einwohner, hatte Obersinn am 31. Dezember 2011 nur noch 989 Einwohner.
Nach einer Bevölkerungsprognose des Landratsamts wird die Einwohnerzahl Obersinns bis 2035 auf nur noch 514 Personen sinken, womit die Sinngrundgemeinde zur kleinsten Kommune im Landkreis würde. Das käme beinahe einer Halbierung gleich.
Obersinns Bürgermeisterin Lioba Zieres sieht als Hauptgrund für den Schwund auch in Obersinn, dass es kaum Gewerbe und damit kaum Arbeitsplätze gibt. Handwerksbetriebe würden durch Supermärkte „kaputt gemacht“. Das Heimatgefühl der jungen Leute höre da auf, „wo es mit dem Geld anfängt“, glaubt Zieres. Das Ergebnis: Sie ziehen weg.
Tourismus und regionale Vermarktung bieten laut Zieres Chancen, den Bevölkerungsschwund aufzuhalten. Aber die Sinngrundgemeinden müssten aus ihrer Sicht dafür zusammenrücken.