Achim Penisch kennt die Strecke von Stetten nach Oberthulba inzwischen genau. Mit den Kurven und Unebenheiten, den Absätzen, Rillen und Mulden ist er sozusagen "per du". Kein Wunder: Sechs Tage fuhr er dort mit verschiedenen Motorrädern entlang, und das jeweils bis zu achtmal hintereinander. Der 38-jährige ist Reifentester und Gebietsleiter für Mitteldeutschland des Reifenkonzerns Michelin.
In Zusammenarbeit mit Moto-Officina Frankenberger, Motorradhändler und Servicewerkstatt in Stetten, erprobte er einen neuen Reifen. Der wird offiziell erst im Januar 2004 vorgestellt.
In drei Sekunden auf Tempo 100
Keine drei Sekunden brauchen aktuelle Supersportmotorräder, um aus dem Stand auf Tempo 100 zu beschleunigen. Nur etwa handtellergroß ist dabei die Auflagefläche eines Motorradreifens auf der Fahrbahn. Die kleine Verbindung zwischen Motorrad und Straße muss gleichzeitig Beschleunigungs- und Bremskräfte übertragen, die Lenkimpulse des Fahrers umsetzen und das Motorrad in der Spur halten.
Damit das funktioniert, treiben Reifen- und Motorradhersteller einen großen Aufwand. Zur Erprobung neuer Reifenentwicklungen unterhält der französische Konzern Michelin nahe der Firmenzentrale in Clermont ein Testglände. Dort und auf verschiedenen Rennstrecken werden die Reifen weiter perfektioniert. Was der Reifen generell kann, ist danach bekannt - nicht aber, ob er sich auch mit jedem Motorrad "verträgt".
Das sollen "Funktionstests" zeigen. Genau das ist die Aufgabe von Achim Penisch als Testfahrer. Dass er für die Tests nach Stetten kam, hat zwei Gründe: Er kennt den Firmengründer Thomas Frankenberger aus seiner Zeit als aktiver Rennfahrer. Penisch war 1992 Deutscher Meister in der Klasse Serie (seriennahe 750er) und fuhr bis 1996 in der Supersportklasse (600er) mit. Als gebürtiger Gräfendorfer weiß er zudem, dass er hier die richtigen Straßen zum Testen findet.
Huckelpisten und Kurven
Zuerst nimmt er mit jedem Motorrad eine "Huckelpiste" unter die Räder. Die Straße Stetten-Schönarts-Eußenheim ist dafür perfekt. Der Testfahrer überfährt in Schräglage absichtlich Absätze und Längsrillen im spitzen Winkel. "Kurvige Landstraße" heißt die nächste Kategorie, zu finden zwischen Eußenheim und Gössenheim. Hinter Gössenheim biegt Penisch in die gut ausgebaute Bundesstraße nach Hammelburg ein. Später geht's nach Oberthulba und dort auf die Autobahn. Hier testet Achim Penisch die Reifen bis zur Höchstgeschwindigkeit.
Nie darf das Motorrad beim Testen anfangen, unkontrolliert zu pendeln. Der 38-Jährige versucht eben das zu provozieren - durch falsche Lenkimpulse oder ganz banal mit einem Griff an den Helm. Motorradfahrer unterscheiden zwischen harmlosem Pendeln und gefährlichem "Kickback". Letzteres tritt vor allem beim scharfen Beschleunigen und auf schlechten Straßen auf. Der Lenker schlägt dabei schnell von Anschlag zu Anschlag.
Weniger gefährlich, aber ebenfalls unbeliebt ist so genanntes Shimmy (Lenkerflattern). Es kommt bei nicht zusammenpassenden Paarungen Reifen-Motorrad vor, wenn bei Tempo 60 bis 80 der Lenker nur locker gehalten wird. Oft spüren Fahrer das Shimmy, wenn sie gemütlich auf eine rote Ampel zurollen und die Finger lockern.
Das Kraftfahrtbundesamt hat längst erkannt, dass Motorrad und Reifen zusammenpassen müssen. Bei Motorrädern über 37 Kilowatt Leistung sind in der Regel im Fahrzeugbrief und -schein die erlaubten Reifentypen aufgelistet. Will der Fahrer eines solchen Motorrades auf einen anderen Reifen umsteigen, braucht er dafür die Freigabe des Motorrad- oder Reifenherstellers. Solche Freigaben, heutzutage oft per Internet oder Fax erhältlich, sind das Ergebnis der Funktionstests.
"Bei über 90 Prozent der getesteten Motorräder gab es keine Probleme", strahlt Achim Penisch. Auch die "Mischbereifung" wurde geprüft. Sie entsteht, wenn jemand auf dem Vorderrad seinen alten Reifen "Pilot Sport" weiterfahren will und erst einmal nur hinten, wo der Reifen viel schneller "runter" ist, den Nachfolgereifen aufzieht. Für Thomas Frankenberger bedeutete die Testwoche viel Arbeit: Räder ausbauen, Reifen wechseln, Räder einbauen. Klar, dass sich der Testfahrer darauf verlassen können musste, dass alles richtig montiert war. Nach der Testfahrt kamen wieder die normalen Reifen auf die Maschinen. Erklärtes Ziel von Michelin sind Funktionstests mit jedem schnellen Sportmotorrad. Deshalb fragte Thomas Frankenberger seine Kunden, ob sie ihre Motorräder für eine Testfahrt zur Verfügung stellen. Zum Dank bekamen sie es geputzt und vollgetankt zurück. Natürlich hatte Michelin alle Maschinen für die Testfahrten vollkaskoversichert, und ein Geschenk gab es auch. Penisch brachte übrigens alle Maschinen heil zurück.