Stellen Sie sich vor, Sie genießen ein leckeres Vier-Gänge-Menü und schmecken Pilze, wo gar keine sind, ihr vermeintliches Fischfilet entpuppt sich als butterzartes Schweinefleisch und der süße Quittensirup auf der Bayerischen Creme stammt in Wirklichkeit von der Mango. Kann Ihnen nicht passieren? Natürlich nicht, wenn Sie sehen, was sie essen. Was aber, wenn Sie im Stockdunkeln speisen?
Zusammen mit 29 Interessierten stelle ich mich am Samstagabend diesem Abenteuer und tafele im Hotel „Krone“ in Helmstadt beim „Dinner in the Dark“ im stockfinsteren Gewölbekeller. Schon die Auswahl meiner Kleidung verrät Purismus: T-Shirt und Jeans, alles gut waschbar. Kein Schmuck, kein Firlefanz worin man sich im Dunkeln eventuell mit der Gabel verheddern könnte.
Janine Bätz, die Moderatorin des „dunklen Dinners“ führt uns in den Keller. Im von Kerzenlicht beleuchteten Vorraum gibt es Sekt an Stehtischen, je eine Karotte für die Vegetarier (damit die Bedienung weiß, wohin sie die „fleischlosen“ Teller stellen muss) und Anweisungen für den Rest. „Ihr seid heute völlig von uns abhängig“, reibt sich Bätz die Hände und deutet auf sich und Andrea Lindemann. Die Hotelfachfrau in Schwarz trägt ein Nachtsichtgerät. Sie versorgt uns während des Abends mit Speisen und Getränken.
„Je fünf bilden eine Polonaise“, kündigt Bätz an. Ich klemme mich hinter Erika und Thomas, die das „Dinner in the Dark“ zu ihrem Blind Date umfunktioniert haben. Beide haben sich noch nie vorher gesehen, das Date im Internet vereinbart und essen nun zum ersten Mal gemeinsam im Dunkeln.
Unternehmungslustig marschiere ich los, tue den ersten Schritt und stehe im Stockfinsteren. Schlagartig überfällt mich Beklemmung. Worauf habe ich mich da nur wieder eingelassen? Lindemann dirigiert uns „Links, Vorhang, noch mal links, jetzt zwei Stufen runter, dann geradeaus.“ Total unsicher taste ich mich voran, stets darauf bedacht, Thomas' Schulter nur ja nicht zu loszulassen. Nach gefühlten zehn Minuten und vielen Schweißtropfen auf meiner Stirn sagt Lindemann: „Drehen Sie sich nach rechts; dort steht Ihr Stuhl.“
Erleichtert lasse ich mich darauf sinken; die erste Hürde ist genommen – jetzt kann das Dinner beginnen. Neugierig blicke ich mich um und sehe schwarzes NICHTS. Rechts neben mir erfühle ich das Tischende, links neben mir sitzt Thomas, der jedoch intensiv mit Erika beschäftigt ist.
Ich ertaste mein Besteck: Drei Messer rechts, drei Gabeln links, eine Dessertgabel und ein kleiner Löffel. Gott sei Dank, keine Suppe. Rechts, „auf zwei Uhr“, stehen ein Saft- und ein Weinglas. Wein steht ihm Kühler, Wasserflaschen auf dem Tisch, hat uns Bätz informiert. Ich taste mich zu beiden Flaschen hin, stecke meinen Finger ins Glas und kippe mir Wein und Wasser ein. Natürlich lecke ich meinen Finger ab, denn „es sieht ja keiner“. Aber ich bleibe trocken. Aus dem Dunkeln mir gegenüber fragt eine warme Stimme „Wer bist denn Du?“. „Martina“, antworte ich „Und wer bist Du?“. „Ich bin der Alois.“ Schon an seiner Stimme erkenne ich, dass er mein Vater sein könnte. Neben Alois sitzt Imelda, seine Tochter. Ruckzuck komme ich mit beiden ins Gespräch und die Beklemmung im Dunkeln verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist.
Nun gilt es, sich dem Projekt Essen zu stellen. All meine Sinne laufen auf Hochtouren – alle, bis auf das Sehen. Ein kleines Licht schwebt über mir im Dunkeln und plötzlich steht ein gefüllter Teller vor mir. Mit den Fingern taste ich mich über die Vorspeise. Es sieht mich ja keiner, denke ich erleichtert, schiebe mir eine dicke Olive in den Mund und kaue genussvoll. Keine Notwendigkeit, Messer und Gabel zu nehmen. Ich schmecke Honigmelone, Schinken, Weißbrot, Paprika und Zucchini. Allerdings habe ich keine Ahnung was das Zeug ist, das rechts auf meinem Teller liegt. Tomate und Mozzarella, erklärt Janine Bätz, die anschließend jeden Gang „auflöst“.
Den zweiten und dritten Gang kann ich nicht mit den Händen essen: Die Maultaschen in Schnittlauchsoße und das Schweinefilet im Spinatmantel sind zu heiß. Also versuche ich mich mit Messer und Gabel. Das Ergebnis ist gewöhnungsbedürftig: Entweder habe ich die leere Gabel im Mund oder ich nage große Brocken Fleisch von derselben. Das Gemüse hat der Koch gemeinerweise in feine Streifen geschnitten und unters Fleisch drapiert. Leichter wird es beim Dessert. Es fordert nur drei meiner Sinne heraus: tasten, riechen, schmecken – und dann genießen.
Dinner in the Dark
Verantwortlich für das erste „Dinner in the Dark“ im Hotel „Krone“ in Helmstadt war Andrea Lindemann. Die Hotelfachfrau stieß mit ihrer Idee bei ihren Chefs Siegrid und Otmar Wander auf offene Ohren. „Das werden wir öfter machen“, kündigte Küchenchef Wander an. Zusammen mit seiner Belegschaft hatte der Hotelchef beim Betriebsausflug das Essen im Dunkeln ausprobiert. „Ich war total überrascht, denn was ich dabei als Geflügel geschmeckt hatte, stellte sich als zartes Schweinefleisch heraus“, erzählt er.
Das Vier-Gänge-Menü: Zum Entree servierte Wander diverse Antipasti. Dann kamen italienische Nudeltaschen, gefüllt mit Steinpilzen an Schnittlauchsoße, und zum Hauptgang gab es Schweinefilet im Spinatmantel auf Gemüsebett mit Polenta und Kartoffeltalern. Das Dessert bestand aus bayerischer Schokocreme im Baumkuchenmantel sowie Panna cotta mit Früchten.
„Die Teller waren leer, manche sogar abgeschleckt“, erzählt Lindemann, die nach drei Stunden Servieren mit Nachtsichtgerät froh war, es absetzen zu dürfen. Die Gäste seien „freier“ gewesen in ihren Tischsitten, sagt sie. Manche haben ihre Teller und Messer abgeleckt. Eine Frau verlor ständig ihre Serviette und zwei Gläser kippten um. Ansonsten kam es zu keinen „Unfällen“. „Ich war überrascht, wie viel die Gäste geschmeckt haben“, sagt Janine Bätz, die nach jedem Gang die Auflösung lieferte und mit ihrer Frage „Wer ist alles für Aubergine? – Mal die Hand hoch!“, für brüllendes Gelächter sorgte.
Am Ende des Abends ließen die Gäste die Küchencrew (Bild) hochleben. Ein Grund mehr für Küchenchef Wander und seine Crew, das „Dinner in the Dark“ in den Terminplan des Hotels „Krone“ aufzunehmen. Text: mds