Elena Baier aus Retzbach erzieht drei Kinder alleine, sie arbeitet in Teilzeit als Krankenschwester, hat Haus und Garten zu versorgen. Das schlaucht und führt dazu, dass Zeit immer knapp ist. Manchmal wüsste die 40-Jährige nicht, wie sie alles, was ansteht, bewältigen sollte, gäbe es nicht ihre „Kollegen“ von der Karlstadter Tauschring-Initiative. Heute zum Beispiel hat sie Johannes von Reusner zu sich bestellt. Der soll schauen, was mit dem Entlüfter ihrer Heizungsanlage los ist: „Denn da tropft es.“
D für Dienstleistung, W für Ware, P für Purzel
Pünktlich um 11 Uhr steht von Reusner vor Baiers Tür. „Hast du mein Bild von dem Schaden erhalten?“, empfängt ihn seine Tauschring-Partnerin. Von Reusner nickt, er hat gestern noch seine Mails abgerufen: „Wie?s ausschaut, ist das nur eine Kleinigkeit.“ Mit der roten Notfall-Werkzeugtasche in der Hand geht er hinter Baier die Kellertreppe hinunter.
In der Tasche befinden sich nicht nur Schraubschlüssel und Zangen, sondern auch ein Tauschschein, der nach vollendeter Tauschaktion ausgefüllt wird. Ein „D“ steht darauf, Zeichen dafür, dass von Reusner heute eine Dienstleistung gegen „Purzel“ erbringt. Würde er Baier etwas selbst Fabriziertes übergeben, stünde auf dem Zettel ein „W“ für „Ware“.
Seit fast 20 Jahren gibt es die Karlstadter Initiative. Im April 2000 wurde sie gegründet. Dass sie schon so lange läuft, ist ungewöhnlich. Immer wieder entstehen Tauschringe, um nach drei oder vier Jahren einzuschlafen. „Es braucht Regeln und Strukturen, damit so etwas funktioniert“, sagt Ilse Krämer, die dem Tauschring in Doppelfunktion angehört.
Krämer unterstützt die Initiative zum einen als Agenda 21-Beauftragte des Landkreises Main-Spessart. Gleichzeitig ist sie als Privatperson Mitglied. Heute „erpurzelt“ sie von Elena Baier Kräuter. Unlängst hatte sie Baier, die sich hobbymäßig mit Homöopathie beschäftigt, gebeten, ihrem Mischlingsterrier Franzi zu helfen. Dem ging es gar nicht gut: „Er ließ unkontrolliert Wasser.“ Baier brauchte eine Weile, um die richtigen Globuli für das Tier zu finden. Mit Allium cepa, zu deutsch „Küchenzwiebel“, machte sie Franzi wieder gesund. Das brachte ihr 50 Purzel ein.
Damit man weiß, mit wem man's zu tun hat
Zu den Strukturen der Karlstadter Initiative gehören monatliche Treffen. Ohne die, sagt Krämer, würde das Ganze nicht klappen: „Denn die allermeisten Menschen lassen sich nur dann auf Tauschaktionen ein, wenn sie ihr Gegenüber kennen.“ So käme kaum jemand auf die Idee, Elena Baier zu fragen, ob sie gegen Purzel einen Kuchen backen würde, ohne sie jemals gesehen zu haben. Auch Johannes von Reusner, dessen Vorliebe die Reparatur von Heizungsanlagen ist, wird nur von Leuten angeheuert, die ihn schon einmal bei einem Tauschtreffen zu Gesicht bekamen.
Dass jede Arbeitsstunde gleich viel wert ist, gehört zu den wichtigsten Spielregeln des Tauschrings. Babysitten oder Vorlesen wird damit per Stunde genauso bewertet wie eine komplizierte Reparatur, die ausgesprochenes Spezialwissen benötigt. 20 Purzel gibt es pro Stunde, ganz ohne Unterschied. Warum sollten auch Unterschiede gemacht werden, fragt sich von Reusner: „Es fließt ja per Stunde in jede Leistung dieselbe Lebenszeit ein.“ Aus diesem Grund werden zum Beispiel auch gescheiterte Reparaturen pro Stunde genauso entlohnt wie geglückte Behebungen von Defekten.
Sogar mit bedingungslosem Grundeinkommen
Speziell ist der Karlstadt Tauschring durch das vor sieben Jahren eingeführte „Bedingungslose Grundeinkommen“. Das geht so, erklärt Ilse Krämer: „Jedem Mitglied werden pro Monat 50 Purzel gutgeschrieben.“ Und zwar ganz egal, wie viel Purzel das Mitglied besitzt. Johannes von Reusner, der aufgrund einer umfangreichen Reparatur, die über eine Woche gedauert hat, momentan über 1200 Purzel verfügt, erhält am Beginn eines jeden Monats ebenso 50 zusätzliche Purzel wie ein Mitglied, das in letzter Zeit mehr in Anspruch genommen als gegeben hat und darum ins Minus gepurzelt ist.
Allerdings: Die 50 geschenkten Purzel kann niemand horten. Werden sie nicht gegen Dienstleistungen im Wert von zweieinhalb Stunden getauscht, verfallen sie am Ende des Monats. Das nicht hortbare Grundeinkommen macht die Initiative laut Krämer so lebendig: „Bevor wir das eingeführt haben, gab es manchmal nur drei Tauschaktionen im Monat.“ Inzwischen wird unter den aktuell 41 Mitgliedern bis zu 70-mal im Monat irgendetwas getauscht. Einer bietet gut erhaltene Klamotten an, ein anderer verleiht seine Tischkreissäge, ein Dritter bastelt gegen Purzel Drachen mit Kindern, ein Vierter repariert Elektrogeräte und bekommt dafür Hilfe am PC.
Keine Zinsen, keine Zinseszinsen
„Uns geht es um eine andere Art des Wirtschaftens“, erklärt Johannes von Reusner, der sich intensiv mit dem Geldsystem und den durch dieses System bedingten Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen beschäftigt hat. Das „Purzel“-System kommt ohne Zinsen und Zinseszinsen aus, vor allem ist es unmöglich, mit Purzel zu spekulieren. Niemand, so der 56-Jährige aus Retzstadt, will und kann sich bereichern.
Der Karlstadter Tauschring ist nicht die einzige Tauschinitiative in Main-Spessart. In Arnstein tauschen Bürgerinnen und Bürger seit wenigen Monaten ebenfalls Güter, Hilfeleistungen und Wissen gegen „WernTaler“ aus. Wer eine Stunde hilft, erhält 20 WernTaler. Bereits im Jahr 1998 ging in Marktheidenfeld ein Tauschring an den Start.
Handwerker, „Denker“, Krankenschwestern – rund 100 Menschen, die meisten 45+, beteiligen sich aktuell an dem 1996 gegründeten Tauschring in Schweinfurt. „Bei uns wird sehr häufig selbst erzeugtes Gemüse getauscht“, sagt Gründungsmitglied Erich Morgenstern. Besonders begehrt ist daneben handwerkliches Know-how: „Denn in den Haushalten fallen immer wieder kleine Reparaturen an, an denen Firmen gar kein Interesse haben.“
Spezialauftrag: Ehering-Suchen mit Metallsonde
Beim Schweinfurter Tauschring wurden aber auch schon höchst exotische Dienstleistungen gegen „Peanuts“ getauscht: „Ich selbst erhielt einmal an einem sehr späten Abend eine Massage-Behandlung, nachdem ich mir beim Packen für den Urlaub das Kreuz verrissen hatte.“ Denkwürdig ist auch die Anfrage eines Tauschring-Mitglieds an einen Tauschring-Genossen, der im Besitz einer Metallsonde war. Ein Ehering war verloren gegangen. Und sollte mit Hilfe der Sonde wiedergefunden werden.
Nachhilfe für „Peanuts“
„In einem Tauschring traut man sich, Dienstleistungen anzubieten, die man für Geld nicht anbieten würde“, sagt Morgenstern. Er selbst probierte einmal aus, ob er als Nachhilfelehrer für ein Kind, das Probleme in der Schule hatte, taugte. Nachdem Morgenstern großen Erfolg hatte, amtierte er bald für alle vier Kinder der Patchwork-Familie als Nachhilfelehrer gegen „Peanuts“.
Aus dem Schweinfurter Tauschring entstand im März 1998 der Tauschring in Hammelburg. „Blöker“ nennt sich die Währung, auf deren Basis Leistungen verrechnet werden. Auch hier engagieren sich Bürger mit den unterschiedlichsten Kompetenzen, berichtet Mona Schreiber: „Wobei vor allem Menschen aus handwerklichen Berufen, etwa eine Friseurin, eine Schneiderin sowie eine Konditorin, sehr aktiv sind.“ Die Mitgliedskartei registriert 20 „Mitgliedseinheiten“. Hinter einer Einheit können einzelne Menschen, aber auch Familien mit mehreren Kindern stehen.
Machen, was man lieber macht
Durch Tauschringe, so Mona Schreiber, kann man sich Dinge leisten, die man niemals bezahlen könnte: „Zum Beispiel eine Malerei im Wohnzimmer oder an der Garagenfassade.“ Tauschringe bieten aber auch die Chance, Arbeiten abzugeben, die man absolut nicht liebt: „Im Gegenzug übernimmt man eine Arbeit, die einem leicht fällt.“ Das Wichtigste sei jedoch, dass man durch einen Tauschring mit interessanten Menschen in Kontakt kommt. Sogar neue Freundschaften entstehen. Schreiber: „Für mich persönlich war der Tauschring bisher eine große Bereicherung.“
Tauschringe Die Geschichte der deutschen Tauschringe begann 1992 in Halle an der Saale mit der Initiative „döMak“, dem Döhlauer Mitarbeiterkredit. Der evangelische Pfarrer Helmut Becker belohnte damit die freiwillige Mitarbeit an einer Jugendbildungsstätte mit einem Zeitguthaben, das in verschiedenen Betrieben ausgegeben werden konnte. Bis Ende der 1990er Jahre gab es in Deutschland rund 40 Initiativen, in denen Dienstleistungen und Sachen geldlos getauscht werden konnten. Die Initiativen verstanden und verstehen sich als Projekte einer „Wirtschaft von unten“. Inzwischen sollen über 350 Tauschringe mit rund 40 000 Mitgliedern existieren. In jedem Tauschring herrschen andere „Marktregeln“, was ein überregionales Tauschen verhindert. Neben der Tauschring-Initiative Karlstadt gibt es im Landkreis Main-Spessart zum Beispiel noch den Tauschring Marktheidenfeld „Tausch?maR“, seit zehn Jahren in Burgsinn die Tauschring-Initiative-Sinngrund und seit 2017 in Arnstein den WernTaler Tauschring.