Roland Manke hielt vorige Woche rechtzeitig Ausschau und wurde belohnt: Am Montag um 8.30 Uhr traf Hartmut Schneidereit in Gössenheim ein, mit Rauschebart, Rucksack und Wurzelstock wie eh und je. Seit 20 Jahren fast kommt der Obdachlose mehrmals im Jahr durch den Bachgrund; immer feiert er in Gössenheim mit seinen Freunden, die er mittlerweile hier hat, seinen Geburtstag. Der 70. war es am Dienstag voriger Woche.
Der Begriff Obdachloser stimmt nicht mehr so ganz. Seit 2007 hat Hartmut Schneidereit eine feste Unterkunft im hessischen Bad Soden-Salmünster, aber immer noch macht er die meiste Zeit „die Platte“, wie es im Jargon heißt: Er zieht ohne Geld von Ort zu Ort, schläft im Freien, am liebsten auf Parkbänken, und fühlt sich „überall wohl“. Und er hat überall Freunde und gute Bekannte.
Zu ihnen zählt Roland Manke. Mit ihm und neun anderen Gössenheimern feierte Hartmut Schneidereit seinen Ehrentag im Höllricher Gasthaus „Zum Hirschen“. Erste Anlaufstelle und auch Unterkunft ist für ihn stets das Anwesen von Therese Wesemann. Sie erinnert sich an die erste Begegnung: Es klopfte ans Fenster und die zwei großen Hunde schlugen nicht etwa an, wie sie es sonst bei jedem Fremden taten, sondern wedelten freudig mit dem Schwanz, als stünde ein Freund vor der Tür – und das wurde der Mann mit dem wilden Bart dann auch. Therese Wesemann und ihr inzwischen gestorbener Gatte verstanden sich auf Anhieb mit dem Gast: „Er hat ein Licht in den Augen.“ Die Wesemanns nahmen den Fremden, der um eine Brotzeit gebeten hatte, bei sich auf. Er blieb ein paar Tage. Die Gastgeberin ist noch immer fasziniert von der Ausstrahlung des „Ritters der Landstraße“, wie ihn ein norddeutscher Pastor genannt hat. Er zeigt, mit wie wenig man auskommen kann, und verbreitet eine wohltuende Ruhe. „In der Ruhe liegt die Kraft“, sei auch Schneidereits Standardspruch, berichtet Therese Wesemann und erzählt dazu eine Anekdote: Als sie einmal von der Arbeit in ihrer Apotheke erschöpft war und sich unwohl fühlte, sagte ihr Gast: „,Ich schlafe jetzt eine Runde für Dich‘, und das half mir tatsächlich.“
Die Apothekerin registrierte einige Eigenheiten ihres Gastes: „Er ist unwahrscheinlich ordentlich“, hat immer Hausschuhe dabei, macht sich in der Wohnung nützlich, kümmerte sich um die Hunde und hielt die Terrasse sauber, „wie geleckt“. Denn die Terrasse mit einer Gartenliege war immer Schneidereits Schlafplatz. Erst dieses Jahr konnte ihn Therese Wesemann überreden, wegen der Kälte doch besser im Haus zu schlafen.
Als sich schon beim ersten Besuch herausgestellt hatte, dass „der Ritter der Landstraße“ und sein Gastgeber am selben Tag Geburtstag hatten, ergab sich die alljährliche gemeinsame Feier. Lange allerdings bleibt der Gast nie – „er hat Hummeln im Hintern“, beschreibt die Gössenheimerin den Freiheits- und Reisedrang, was wohl typisch ist für die Leute, die auf der Straße leben.
Warum er „die Platte macht“, was der Auslöser war, erzählt Hartmut Schneidereit nicht. Geboren sei er im ostpreußischen Tilsit (Sowetsk), aufgewachsen in der Lüneburger Heide und von Beruf Melker. Angehörige habe er wohl, es bestehe jedoch kein Kontakt. „Verheiratet war ich nicht – ich liebe die Abwechslung“, sagt er verschmitzt. Seit dem 48. Lebensjahr lebe er auf der Straße. Dass er nun eine feste Bleibe hat, dafür hat Therese Wesemann gesorgt: „Ich habe ein ernstes Wort mit ihm geredet: Wenn man langsam 70 wird, geht das nicht so weiter.“
Postadresse ist die Gössenheimer Burgapotheke wie seit Jahren teils immer noch für den „Ritter der Landstraße“. Zum Geburtstag vorige Woche trafen etliche Grußkarten und Briefe – manche mit einem Zehn-Euro-Schein – aus allen deutschen Landen ein. Von Flensburg bis Berchtesgaden zieht Hartmut Schneidereit umher, die weiteste Tour führte ihn bis an den Atlantik nach Bordeaux. Lieblingsorte hat er nicht – „für mich war es überall schön“. Und überall hat er mittlerweile Freunde und Bekannte wie in Gössenheim, über 100, schätzt er.
Noch nie habe er unterwegs etwas Böses erlebt oder einen Unfall gehabt, nie Hunger gelitten, sondern immer eine Brotzeit bekommen, erzählt der „Ritter der Landstraße“. Oft bekomme er auch einen guten Schlafplatz angeboten. Zum Beispiel erlaube ihm der Hausmeister einer Schule, auf dem Pausenhof zu nächtigen und schließe ihm sogar die Toiletten auf, damit er sich waschen könne.
In Gemünden habe er schon in der offenen Schutzhütte auf der Lindenwiese genächtigt. Unter Brücken jedenfalls schlafe er nicht, lieber in Friedhöfen auf einer Bank – „da wird man nicht überfallen“, sagt Schneidereit.