Seine Großmutter war zum Zeitpunkt ihres Todes abgemagert wie ein Skelett. Der Versbacher Martin Popp, Jahrgang 1935, ist der festen Überzeugung, dass man sie 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt in Lohr hat verhungern lassen.
„Das hab ich dem Professor Heyde zu verdanken“, habe seine Mutter immer gesagt und den NS-Täter Werner Heyde, im so genannten Dritten Reich in Würzburg Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie und Neurologie sowie Klinikdirektor, „verflucht und verteufelt“.
An Alzheimer erkrankt
Jakobine Schönbein, so hieß die Großmutter, war zweimal verheiratet gewesen. Im Zweiten Weltkrieg wohnte Schönbein, Jahrgang 1878, mit ihrer Tochter aus zweiter Ehe, Popps Mutter Betty, sowie den Enkelkindern Martin und Johanna in der Theresienstraße 8 in Würzburg.
Popps Vater war früh gestorben, weswegen seine Mutter alleine für die Familie sorgen und Geld in der Uniformfabrik verdienen musste. Unter diesen Umständen war es nicht einfach für sie, dass ihre Mutter vor drei Jahren an Alzheimer, damals „senile Demenz“ oder „Hirnarteriosklerose“ genannt, erkrankt war und betreut werden musste. Oft waren ihre beiden Kinder alleine zu Hause mit der dementen Großmutter.
„Frau Popp, Sie sind überfordert mit Ihrer Mutter“, habe deshalb Hausarzt Dr. Rapp – laut Martin Popp ein „lieber, netter Mensch“, der es gut mit ihr meinte – gesagt. „Ihre Mutter tun wir rüber in die Füchsleinstraße in die Nervenklinik“, habe er zu seiner Mutter gesagt. Wie man in Würzburg sagte: „nüber zum Rüger“. So geschah es.
In "mäßigem Allgemeinzustand" in Klinik gebracht
Am 16. Dezember 1943 brachte ihre Tochter sie mit Sanitätern dort vorbei. In der Krankenakte ist vermerkt, dass Jakobine Schönbein desorientiert war und ihre Personalien nicht angeben konnte. Bei einer Körpergröße von 1,52 wog sie 42 Kilogramm – „mäßiger Allgemeinzustand“ ist vermerkt. Sie sei stets freundlich und friedlich gewesen.
Chef der Nervenklinik war damals Professor Werner Heyde. Der habe mit seiner hoch dementen Großmutter wenig anfangen können, erzählt Popp, und sie am 24. Januar 1944 in die Heil- und Pflegeanstalt nach Lohr überwiesen. In der Krankenakte steht am Tag der Einweisung vermerkt: „Es handelt sich um eine senil demente Person, mit der nichts anzufangen ist.“
In der Nervenklinik in Würzburg wie auch in Lohr hielt man sie tagsüber im Bett, obwohl ihr Gang „sicher“ war. Die Familie sei nicht über die Verlegung nach Lohr informiert worden, erzählt Popp, erst von einer Schwester Gretel aus Lohr habe sie erfahren, dass die Großmutter jetzt dort ist.
Stark abgemagert
Als er mit seiner Mutter und Schwester einmal dort zu Besuch war, sei sie stark abgemagert gewesen. Zwar habe sie sich aufgrund ihrer fortgeschrittenen Demenz nicht mehr so ausdrücken können, aber mit Gesten habe sie deutlich gemacht, dass sie Hunger hat. „Man hat sie dort regelrecht verhungern lassen“, sagt der Versbacher.
Am 20. November 1944 starb seine Großmutter in Lohr im Alter von 66 Jahren. Offizielle Todesursache: Altersschwäche – „verhungert“, ist sich hingegen Popp sicher. Ihre Eltern waren mit 81 Jahren an Krebs beziehungsweise mit 88 an Altersschwäche gestorben.
Dass man sie hat verhungern lassen, ist durchaus nicht unwahrscheinlich. Heyde war medizinischer Leiter der Euthanasie-Tötungsaktion T4. Eine Gruppe von Opfern waren Alzheimerpatienten. Die „Aktion T4“ wurde nach Protesten, unter anderem von Geistlichen, 1941 eingestellt.
Tötung durch systematischen Nahrungsentzug?
Doch damit war das Morden nicht zu Ende. Nun lief die Aktion heimlich in Heil- und Pflegeanstalten weiter. Unter anderem hat man Patienten durch systematischen Nahrungsentzug getötet. Dass man Patienten hat verhungern lassen, wurde natürlich nicht in die Krankenakten geschrieben.
Dr. Thomas Schmelter, Oberarzt in der Psychiatrie in Werneck, weiß: Nach der Aktion T4 ist die Sterblichkeit in Lohr, wie in anderen Heil- und Pflegeanstalten auch, deutlich gestiegen. Vor dem Krieg lag die Sterblichkeit in Lohr laut dem Buch „Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949“ von Heinz Faulstich bei unter fünf Prozent, 1945 bei 16,2 Prozent. Schmelter berichtet vom bayerischen Hungererlass durch das Innenministerium im November 1942.
Demnach sollten Unproduktive als „Sonderkost“ oder „Entzugskost“ wenig und fettfreies Essen bekommen – laut Dr. Schmelter „Kohlsuppe mit Wasser“. „Da ist man irgendwann so abgemagert, dass man an der kleinsten Infektion stirbt.“
Aber, so Schmelter, es gebe in Lohr keinen Beweis dafür, dass jemand aktiv etwas dazu getan habe, dass ein Insasse stirbt. Die Grenze zwischen schlechten Lebensbedingungen, jemanden vergammeln lassen und aktiv ermorden sei schwimmend, sagt Schmelter.
Letztes Geld für Überführung der Leiche verbraucht
Zum Fall von Popps Großmutter sagt er: „kann sein, kann nicht sein“, da es niemand in die Akte schrieb, dass man jemanden hat verhungern lassen. Laut dem Erlass sollten Menschen, die an „Alterspsychose“ leiden – wieder ein anderes Wort für Alzheimer – eigentlich von dieser Hungerkost ausgenommen sein.
Seine Mutter, erinnert sich Martin Popp, musste das letzte Geld zusammenkratzen, um die Überführung der Leiche der Großmutter nach Würzburg zu bezahlen. Er erinnert sich auch noch an den mit Kreide geschriebenen Schriftzug auf dem Sarg der Großmutter: „Nicht mehr öffnen – Infektionsgefahr.“
Popp glaubt, dass so womöglich verhindert werden sollte, dass jemand sieht, wie seine Großmutter aussah. Aber in der Leichenhalle in Würzburg hätten sie offenbar ein moralisches Gewissen gehabt, sagt Popp, und hätten gesagt „Da machen wir nicht lange rum“ – und den Sarg geöffnet.
Für seine Mutter sei es erschütternd gewesen, ihre Mutter als splitternacktes Skelett auf Sägemehl liegend darin vorzufinden. Man habe ihr wenigstens noch eine Weste angezogen, erinnert sich Popp. Der Halbbruder von Martin Popps Mutter aus der ersten Ehe von Jakobine Schönbein habe sich um das Grab gekümmert, das auch er regelmäßig besucht habe.