Karlstadt

Türken in Karlstadt: Aus Gastarbeitern wurden Mitbürger

Aus der Geschichte Main-Spessarts (139): Von der Feldarbeit ins Eisenwerk, das war ein krasser Wechsel. Viele türkische Männer wollten nur zwei Jahre bleiben. Dann holten sie ihre Familien nach und wurden in Main-Spessart sesshaft.
Viele Türken in Karlstadt kamen ganz aus dem Osten aus der Gegend von Igdir (siehe Wegweiser). Im Hintergrund der schneebedeckte Gipfel des Ararat.
Foto: Karlheinz Haase | Viele Türken in Karlstadt kamen ganz aus dem Osten aus der Gegend von Igdir (siehe Wegweiser). Im Hintergrund der schneebedeckte Gipfel des Ararat.

Früher hatten sie täglich den biblischen Berg Ararat mit seinem schneebedeckten Gipfel vor Augen, heute ist es die Ruine Karlsburg. Viele türkischstämmige Familien, die in Karlstadt wohnen, kommen ursprünglich aus Igdir (sprich: Ühdir) oder Karakoyunlu  ganz im Osten der Türkei. Noch heute ist diese fruchtbare Ebene von Ackerbau und Viehzucht geprägt. Wasserläufe durchziehen die Landschaft mit ihren Aprikosenplantagen.

Vor mehr als 50 Jahren starteten die ersten Männer von dort ins Abenteuer Deutschland. Zwei Jahre wollten die meisten von ihnen hier arbeiten - bis genug Geld zusammengespart wäre, um sich einen Traktor zu leisten. Dem Vernehmen nach ist das in zwei Fällen tatsächlich geschehen. Bei den meisten anderen verlief dieses Abenteuer ganz anders. Es lief darauf hinaus, dass Karlstadt und der Stadtteil Mühlbach auf der gegenüberliegenden Mainseite etwa zehn Prozent Einwohner mit türkischen Wurzeln haben.

Viele Gastarbeiter fingen im Eisenwerk Düker an. Hier werden gusseiserne Badewannen emailliert.  
Foto: Agdas | Viele Gastarbeiter fingen im Eisenwerk Düker an. Hier werden gusseiserne Badewannen emailliert.  

Das Eisenwerk holte Arbeitskräfte vom Bosporus 

Vor allem das Eisenwerk Düker in Karlstadt dürstete Ende der 1960er Jahre regelrecht nach Arbeitskräften. Die Zahl der Beschäftigten stieg von 500 auf 760. Viele davon wurden in der Türkei angeworben. Der Personalchef und der Betriebsratsvorsitzende waren gemeinsam nach Istanbul geflogen, um sie in Zusammenarbeit mit dem türkischen Arbeitsamt auszuwählen. Gesund und arbeitsfähig sollten die Arbeiter sein.

Einer der ehemaligen "Gastarbeiter" erzählte, wie er 1973 in Istanbul medizinisch untersucht wurde. In Deutschland lockten 4,30 DM Stundenlohn. Mit dem Zug fuhr er mit einer ganzen Gruppe nach München. Dort wurden 65 Mann der "8782" zugeteilt, damals die Postleitzahl von Karlstadt/Main. Am Ziel angekommen ging es gleich ins Eisenwerk. Dort schliff er nun, der zuvor auf dem elterlichen Bauernhof mit Ochsenkarren Landwirtschaft betrieben und dann bei einem Onkel in Istanbul in dessen Lebensmittelgeschäft gearbeitet hatte, gusseiserne Rohre ab – eine staubige Angelegenheit und eine extreme Umstellung.

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Die Männer lebten meist beengt, viele gemeinsam in kleinen Wohnungen, die sich teilweise in eigentlich sanierungsbedürftigen Häusern in der Altstadt befanden. Es war ein Leben im Provisorium. Sollten sie hier in Deutschland bleiben? Sollte die Familie nachkommen? Hart war für viele das Heimweh. Manche hatten gerade erst geheiratet, um bald darauf ihre Frau zurückzulassen. Einer erzählte, dass er zwei Jahre lang auf die teure Fahrt in die Türkei verzichtete und das Geld lieber in die Heimat schickte. Nach fünf Jahren endlich zogen seine Frau und seine Tochter nach. Ein Kollege von ihm blieb gar zwölf Jahre in Karlstadt, ehe entschieden wurde, dass seine Frau und die sieben Kinder nachkommen. Da er in der Türkei keine Schule besucht hatte, schrieb ein Kollege die Briefe an seine Frau.

Die erste Generation von Türken 1971 in Karlstadt.
Foto: Arslan | Die erste Generation von Türken 1971 in Karlstadt.

Die deutsche Sprache wurde vernachlässigt

Da zunächst die Rückkehr der Männer in die Türkei geplant war, wurde das Erlernen der deutschen Sprache sträflich vernachlässigt – von beiden Seiten, der türkischen und der deutschen. Das bleibt so, auch als die Kinder nachzogen. So wurden die türkischen Kinder von 1975 bis 1986 – separiert von den deutschen – im leerstehenden Laudenbacher Schulhaus unterrichtet: auf Türkisch. Währenddessen gingen die deutschen Kinder in Karlstadt zur Grundschule. Man hatte nichts miteinander zu tun.

Der türkische Lehrer hatte anfangs 45 äußerst lebhafte Kinder der dritten, vierten und fünften Jahrgangsstufe gleichzeitig zu unterrichten. Ab der sechsten Klasse wurden die türkischen Kinder plötzlich in deutsche Hauptschulklassen verteilt. Die fünf Stunden Deutschunterricht pro Woche, die sie zuvor gehabt hatten, reichten bei Weitem nicht aus, um plötzlich in der deutschen Hauptschule mithalten zu können.

Deutsch-türkische Sommerfeste

Versuche einer Annäherung waren die deutsch-türkischen Sommerfeste, von denen das erste 1986 auf dem Karlstadter Marktplatz stattfand. Die Diskussionen bei der Vorbereitung zeigten, dass nicht nur die Sprache ein Hindernis sein kann. So ging es um die  Frage, ob bei dem Fest auch Alkohol ausgeschenkt werden soll. Die Vertreter der türkischen Seite stimmten zu. Unter den Vereinen dürften die Fußballer als Vorreiter in Sachen Integration gesehen werden.

Als Ort der religiösen und kulturellen Identität übernahmen einige Männer das kleine Gasthaus "Hirschenklause" und gründeten dort den Türkischen Arbeiterverein. Eine Bücherei wurde eingerichtet, man traf sich zu Spielen. Andere richteten 1982 in einem Haus der Altstadt die erste Moschee ein, die zum Verband der Islamischen Kulturzentren gehörte. 1986 spaltete sich ein Teil der Gemeinde ab und eröffnete eine Moschee, die der staatlichen Ditib (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) angehört.

Die Sultan-Süleyman-Moschee in der Karlstadter Schönerstraße.
Foto: Moschee Karlstadt | Die Sultan-Süleyman-Moschee in der Karlstadter Schönerstraße.

Moscheen wurden gegründet

Inzwischen befinden sich beide Moscheen im Gewerbegebiet. Die völlig neu errichtete Moschee der Islamischen Kulturzentren wurde 1994 eröffnet. Inzwischen hat auch die Ditib-Moschee ein Minarett. Die Moscheen sind ähnlich wie die Kirchen vor allem an hohen Feiertagen gut besucht und sonst eher mäßig. Wie auch in der christlich geprägten  Gesellschaft gibt es frommere und weniger fromme Familien, es gibt Frauen, die Kopftuch tragen und solche, die eher modisch westlich gekleidet sind.

Auch heute noch gibt es wenig echte Freundschaften zwischen türkischstämmigen und deutschstämmigen Karlstadtern. Der Anteil türkischstämmiger Schüler an der Mittelschule beträgt rund 15 Prozent. 1994 legte der erste türkischstämmige Schüler am Johann-Schöner-Gymnasium das Abitur ab. Inzwischen hat das Gymnasium immerhin knapp vier Prozent türkischstämmige Schüler, an der Realschule sind es rund sechs Prozent.

Bildung als Schlüssel für Integration

Mittlerweile ist Bildung – und hier als Grundlage die deutsche Sprache – als wichtigster Ansatzpunkt für das Gelingen von Integration erkannt. Bereits im Kindergarten finden Vorkurse in Deutsch statt. Die Meinungen gehen auseinander, ob in türkischen Familien Deutsch oder Türkisch gesprochen werden sollte. Cem Özdemir, der türkischstämmige Landwirtschaftsminister, plädierte vor etlichen Jahren bei einer Diskussion im Karlstadter Jugendzentrum entschieden dafür, dass zu Hause die Muttersprache gesprochen werden sollte. "Das ist besser als ein krudes Deutsch, weil die Eltern selbst nicht gut Deutsch können."

Inzwischen ist die Zahl der Ehen, die die zwischen einem in Deutschland lebenden und einem frisch aus der Türkei kommenden Ehepartner geschlossen werden, rückläufig. Auch spielen bei der Eheanbahnung seltener Tipps aus dem Verwandtenkreis oder gegenseitige Familienbesuche eine Rolle. Ehen zwischen deutschen und türkischen Partnern allerdings lassen sich nach wie vor an einer Hand abzählen.

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Um zusätzlich zu den Anstrengungen der Kindergärten und Schulen etwas für die Bildung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu tun, arbeitet seit zwölf Jahren Sakine Azodanlou (sprich: Asodanlu) als Integrationsbeauftragte. Die Familie der studierten Germanistin kam einst ebenfalls aus der Gegend von Igdir. Sie fungiert als Bindeglied vor allem zwischen Schulen und Elternhäusern. Sie gibt Deutschkurse, kümmert sich um Bildungsangebote für Frauen und Familien und ist Ansprechpartnerin im Jugendzentrum. Vereinzelt gibt es Frauen, die schon über 30 Jahre in Deutschland leben, aber noch immer nicht ausreichend Deutsch können.

Sakine Azodanlou, die Integrationsbeauftragte der Stadt Karlstadt.
Foto: Markus Rill | Sakine Azodanlou, die Integrationsbeauftragte der Stadt Karlstadt.

Erste Grabstellen im Ostfriedhof eingerichtet

Manche gehen tatsächlich im Alter zurück in die Türkei. Teilweise ist es die Liebe zu ihrem Ursprungsland, teilweise ist es die dort günstigere Lebenshaltung, die sie dazu bewegt. Wer bis ans Lebensende in Karlstadt bleibt, wird in den meisten Fällen nach dem Tod überführt und in türkischer Erde begraben. Inzwischen gibt es erste Grabstellen für Muslime auf dem Karlstadter Ostfriedhof.

Nach dem Ende einer langen Serie der Main-Post über türkischstämmige Menschen in Karlstadt vor rund zwölf Jahren kritisierte eine türkischstämmige Leserin im Online-Kommentar, ihre Landsleute würden einfach nur das erzählen, was der Autor hören will. "Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Türken sind eine Gemeinschaft, welche keine Andersdenkenden annimmt. Es gibt keine freie Meinung. Jeder muss nach der Pfeife der Älteren tanzen. Wenn du aus der Reihe tanzt, wirst du ausgestoßen (leider)."

Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter www.mainpost.de/geschichte_msp

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